Interretromezzo. Sowjetisches Kino aus dem Jahr 1933 ist manchmal unangenehm aktuell. Lena Stölzl berichtet von der Berlinale.
Mir hätte das selbstverständlich vorher klar sein können, aber manchmal braucht es seine Zeit, um gewisse Dinge zu durchschauen – zum Beispiel das System des Ticketverkaufs. Denn die Akkreditierten stellen sich zwar täglich frühmorgens an, um Tickets zu kriegen, sollten sie dabei jedoch erfolglos bleiben, gibt es immer noch die Möglichkeit in der Metaschlange vor dem jeweiligen Kinosaal – extra für Badges – zu warten bis alle anderen darin verschwunden sind und dann bei Beginn des Films in die erste Reihe zu huschen (es funktioniert! Zumindest bis jetzt). Und für die Normalsterblichen, die im Vorverkauf leer ausgehen, gibt es immer noch Karten an der Abendkassa. Irgendwie macht es also Sinn und irgendwo auch nicht. Berlin ist eben chaotisch, nicht nur arm, aber sexy, sondern vor allem unendliches Nebeneinander provozierende Weitläufigkeit – sei es in Topographie, Architektur, Bevölkerung oder Kulturangebot.
Und ein Filmfestival ist per se ein Event Horizont unzähliger Interessen. Zum Beispiel in einer Vorstellung der Retrospektive „Die rote Traumfabrik – Meschrabpom-Film“, die beinah genau so überlaufen wird wie eine der Arabischer-Frühling-Dokumentationen. Zugegeben handelte es sich um „Gorisont“ von Lew Kuleschow aus 1933, einen Film also, der lange Zeit unter Verschluss lag und bis heute kaum zu sehen war. Beglückt wurde man im Zuge dessen außerdem durch die Filmhistorikerin und Enkelin Kuleschows Jekaterina Chochlowa, die maßgeblich verantwortlich zeichnete, dass dieser und viele andere Filme des spätestens ab 1936 nicht mehr so beliebten Formalismus die Sowjetunion überlebt haben. Sie unterhielt mit einer fundierten Einführung in die Thematik, wobei sie vor allem den Antisemitismus in der Zarenzeit behandelte, weniger die Proletariatsunterwanderung in der kapitalistischen USA, die die Hoffnungen des Protagonisten tief enttäuscht und ihn in weiterer Folge auf den Revolutionsweg zurück nach Russland führten. Dennoch ließ mich die Heterogenität eines sich nicht nur aus Studierenden zusammensetzenden Publikums mit einem gewissen Erstaunen zurück, mich, die ich Retrospektiven nur maximal bis zur Hälfte befüllt kenne. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich sie selbst kaum je besuche. Jedenfalls stammt die Filmkopie von „Gorisont“ aus dem Wiener Filmmuseum und mein Respekt gilt den braven Archivarbeitern (aller Welt), die es ermöglichen, dem über das Unglück des Proletariats lauthals lachenden Kapitalismus aus der damaligen tiefrot gefärbten Sicht (mit Pausbacke, Falten und Zigarre) nochmal ins Antlitz zu sehen – um dabei zu spüren, wie nahe dieses Bild dem heutigen Gefühl eigentlich ist.