Realität verpflichtet – Dokfilm zwischen Hörspiel, Reenactment und Footage. Lena Stölzl berichtet von der Berlinale.
In den letzten sieben Tagen wurden allein vor meinem Augenpaar elf Dokumentarfilme projeziert, geschichtliche und aktuelle, experimentelle und klassische, faktische und emotionale, gute und leider auch nicht so gute. Grund: in manchen Dokus wird die Ästethik zugunsten des Inhalts vernachlässigt. Mitunter ist es sogar verpönt, knallharte Fakten in optisch ansprechenden Formen auszudrücken. Obwohl es wünschenswert ist, diese Fakten oder generell die Thematiken wie gegenwärtige Problemstellungen politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Art ans Licht zu bringen, bleibt es alles in allem etwas traurig anzusehen, wie sich viele Dok-Filme technisch selbst beschneiden.
„Words of Witness“ (Regie: Mai Iskander, USA 2012) ist jenem bereits veralteten Dokumodell zuzurechnen, das die Gemachtheit des Werkes verbergen will und in dem die Position der Kamera als unsichtbares drittes Auge unreflektiert bleibt. So kommt die Dokumentation der Kategorie „Arabischer Frühling“ über die so junge und so engagierte Journalistin Heba Afifi, deren aufklärerischer Wille gegen alle Konventionen jeder nur mögliche Respekt gebührt, vom filmischen Standpunkt her eher schwach, weil zum Beispiel die Szenen mit Hebas Mutter, die ihr verbieten will, auf den Tahrir-Platz zu gehen, eindeutig nachgestellt sind und dies durch die Tatsache, dass der Film unter dem Banner der Authentizität dennoch so tut, als ob nicht und diese Disposition unhinterfragt lässt, entschärft oder auch unglaubwürdig wirken.
„Friends after 3.11“ (Regie: Iwai Shunji, J 2011), ein Film über die Folgen der Fukushima-Katastrophe, ist ein klassischer Radiofilm und zeigt – beinhart – 120 Minuten lang nur sprechende Gesichter, die zwar alle Kontroversen rund um diesen Vorfall behandeln, denen man dabei aber einfach unmöglich so lange zusehen kann, weswegen eine synchronisierte Fassung schön gewesen wäre, bei der man die Augen schließen und einfach zuhören hätte können. Aber wenn das Ganze auf japanisch abläuft wird einem das auch irgendwann zu viel.
Ebenfalls dieser Kategorie zuzuordnen ist der neue Karmakar „Angriff auf die Demokratie“, der damit eine gleichnamige Konferenz dokumentiert, die Mitte Dezember 2011 als Reaktion auf die Finanzkrise stattfand und an der er selbst mit einem Beitrag teilnahm, der als entspannendes Zwischenspiel in der Mitte des Films eine sechsminütige Einstellung einer grasenden Ziegenherde zeigt. Einerseits ist es zwar gut, sich mit diesen diskussionswürdigen Vorträgen auseinanderzusetzen, andererseits stellt sich schon auch die Frage, warum hier Film als Medium gewählt wird. Wobei das Ziegenzwischenstück wirklich eine heitere Augenweide war. Auch geht es primär darum, zentralen Fragestellungen eine Form der Verbreitung zu geben, die sie in die Köpfe möglichst vieler Menschen setzt, damit sie dort weiterwachsen kann. Und eine Radiosendung hat nun einmal nicht die Reichweite eines Festivalfilms.
Bei einem Thema wie der Problematik der von Marokko unterdrückten Sahrawis in der Western Sahara, die seit 37 Jahren konsequent medial ignoriert wird, ist dies auch um einiges einleuchtender als zum Beispiel die arabischen Revolutionen des letzten Jahres, die von ihrer starken internationalen, medialen Präsenz vorangetrieben wurden (und hier auf der Berlinale mit mindestens fünf Filmen vertreten waren). Dem entgegen dokumentiert „Hijos de las nubes“ („Sons of the Clouds“, Regie: Alvaro Longoria, E / USA 2012) über drei Jahre hinweg, wie sich Superstar Javier Bardem für die Sahrawis einsetzt; bis ins UN-Hauptquartier. Der Film kommt im klassischen BBC-Dokustil und kennt nur die eine Mission: zu informieren – was ihm auch sehr gut gelingt, denn selbst wenn einem dieser Konflikt bereits ein Begriff ist, vermittelt der Film das Gefühl, ihn an vertieftem Wissen angereichert zu verlassen. Und Javier Bardem ist einfach der Grund, warum den Film wohl mehr Menschen sehen werden, als dies sonst der Fall wäre.
Essayistischer verfährt „No Man’s Zone“ (Regie: Fujiwara Toshi, J / F 2012), auch ein Fukushima-Film, der lange, surrealistische Einstellungen der vom Tsunami zum Schutt verwüsteten Zivilisation kombiniert mit Aufnahmen unheimlich idyllischer Landschaft, über die sich der schrecklich unsichtbare Schatten der Radioaktivität gelegt hat. Begleitet von einem Kommentar aus dem Off, der über Bilder der Zerstörung und die menschliche Beziehung zu ihnen reflektiert und Interviews mit Landleuten, die erst drei Monate nach der Havarie aus den durch die Witterungsverhältnisse am meisten verstrahlten Gebiet evakuiert werden und nicht damit umgehen können, ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen zu müssen. Die Unfassbarkeit dieses Verlusts mischt sich mit der Unerträglichkeit der bloßen Anwesenheit sowohl dieser Menschen als auch der Kamera, die sie aufzeichnet. „Rede nicht, lauf um dein Leben…“, möchte man ihnen zurufen und muss sich auf die Lippen beißen, denn es wäre schon zu spät und ein Tag mehr oder weniger macht keinen Unterschied mehr. Hier wird der Film grenzwertig strapaziös und beeindruckt dennoch mit seiner – nicht zuletzt bildlichen – Stärke. Eine Kürzung um zehn bis fünfzehn Minuten würde der enormen Präsenz, die dieser Film vermittelt, jedoch auch keinen Abbruch tun.
Das Medium des Dokumentarfilms eignet sich vor allem für detektivische Spurensuche. So entspinnt Philip Scheffner in seinem Neuling „Revision“ (D 2012) eine kriminologische Bestandsaufnahme über einen Zwischenfall an der deutsch-polnischen Grenze vor beinah zwanzig Jahren – damals wurden zwei Rumänen von zwei Jägern erschossen. Doch handelte es sich dabei um illegale Grenzgänger, weswegen die zwei Jäger nur je einen Tag dafür in Haft saßen, die Ermittlungen eingestellt wurden und die Familien der Opfer erst durch den Film von diesen Umständen erfuhren, die noch immer zum Gros unter der Spitze des Eisberges im Dunkel liegen. Der junge französisch-kambodschanische Davy Chou hingegen dokumentiert seine Suche nach der Goldenen Ära des kambodschanischen Kinos (zwischen 1960 und 1975), das während der Herrschaft der Roten Khmer beinah vollständig vernichtet wurde und nur noch durch Fotografien, Musik und den Zeugnissen der wenigen Überlebenden aus der Filmbranche belegt werden kann. Das Resultat „Le sommeil d’or“ („Golden Slumbers“, F / CAM 2011) führt auf eine Reise retour durch den Sog der Zeit direkt in eine unglaubliche – und Chou sei Dank nun nicht verlorene – Geschichte des Kinos.
Je weiter so ein Filmfestival fortschreitet, desto mehr entdeckt man, was noch gesehen werden will, doch desto mehr steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Gleichzeitigkeit gewollter Vorstellungen und spätestens dann wünscht man sich mehr Zeit zur Verfügung zu haben, oder auch alle der Welt (mitunter), aber dem wird nicht so sein. Deshalb wird sich damit abgefunden, dass es zu Ende geht obwohl man noch lange nicht damit fertig ist. Und ehrlich gesagt, wäre es auch eine Katastrophe, „fertig“ mit Filme kucken zu sein. So manches im Leben darf ruhig unvollständig bleiben. Ach ja, und wie war das nochmal mit den Bären jetzt?
Persönliche Hochlichter:
1. This ain’t California (Regie: Marten Persiel, D 2012)
2. Revision (Regie: Philip Scheffner, D 2012)
3. Le sommeil d’or (Golden Slumbers, F / CAM 2011)
Außer Konkurrenz: Keyhole (Regie: Guy Maddin, CAN 2011)