Musik ohne Geschlechterschubladen – Warum ist das nicht selbstverständlich?

Was bedeutet es Musik zu machen, wenn das eigene Geschlecht nicht selbstverständlich ist? Wir haben mit drei in Wien lebenden Musiker*innen gesprochen, die ihr Geschlecht außerhalb der Schubladen »Mann« und »Frau« verstehen. Sie erzählten uns über ihre Musik, ihre Erfahrungen mit Gender und ihre Wünsche an die österreichische Musikszene.

Kerosin95 © Patrick Münnich
© Patrick Münnich

Gender ist kein theoretisches Hirngespinst, keine politische Korrektheit. Gender ist gelebte Realität. Gender beschreibt einen zentralen Teil unserer Identität, einen zentralen Teil davon, wie wir uns selbst ganz intim, aber auch gegenüber der restlichen Gesellschaft verstehen. Die Zuordnung von Gender ist dabei keineswegs frei. Bei unserer Geburt werden wir in eine der Schubladen »Mann« oder »Frau« eingeordnet.

Für viele Menschen ist diese Zuordnung akzeptabel. Vielleicht ist die Schublade mal zu eng, vielleicht stören ein paar Kanten und Ecken. Aber im Großen und Ganzen passt sie dazu, wie sich diese Menschen selbst verstehen. Das ist die Erfahrung von Cis-Menschen. Für Cis-Menschen stimmt das Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde, überein mit jenem, dem sie sich zugehörig fühlen.

Andere Menschen wiederum fühlen sich zutiefst unwohl in der Schublade, in die sie eingeordnet wurden. Diese Menschen bezeichnet man als trans*. Bei Trans*-Menschen stimmt das zugeordnete Geschlecht nicht mit dem tatsächlichen Geschlecht überein. Viele Trans*-Menschen fühlen sich zwar nicht in der ursprünglichen Schublade wohl, dafür aber in der zweiten klassischen Schublade.

Viele, aber nicht alle. Für manche Menschen ist die Zuordnung in keine der beiden Schubladen »Mann« und »Frau« möglich. Sie fühlen, dass ihr Geschlecht nicht in diese Binarität hineinpasst. Für sie hat sich die Sammelbezeichnung non-binary etabliert. Vielleicht ist ihr Geschlecht irgendwo zwischen den Schubladen einzuordnen (bigender), vielleicht fluktuiert es mit der Zeit oder der Situation (genderfluid), vielleicht besteht es völlig unabhängig von diesen beiden Schubladen (genderqueer) oder vielleicht hat die Person gar kein Gefühl davon, überhaupt so etwas wie ein Gender zu haben (agender).

Im Gespräch haben uns Kerosin95, Mala Herba und Tony Renaissance erzählt, was ihre Erfahrungen außerhalb der klassischen Geschlechterschubladen sind, wie sie sich und ihre Musik im Verhältnis zu einer queeren Community sehen und ob Gender überhaupt irgendwas mit ihrer Musik zu tun hat.

Gender ist etwas sehr Intimes

Die Musik von Tony Renaissance füllt den Raum. Layer über Layer von Samples baut den Track langsam auf, bevor die Stimme zunehmend Platz einnimmt. Hallend, verzerrt, mal alleine, mal fast unhörbar neben der restlichen Soundwand. Wie ein Chor in einer Person wirken Tony und der Synthesizer. In dem zwölfminütigen Set, das auf Okto ausgestrahlt wurde und im Internet nachzusehen ist, kniet Tony auf einem Teppich in einem schwarzen Raum. Der Blick nach unten auf den Synthesizer gerichtet, das Mikro in einer Hand, die andere an der Maschine. Weißes T-Shirt, schwarze Hose, kurzgeschorene Haare und Chucks. Tonys Performance wirkt reduziert, geht fast unter neben dem gewaltigen Sound.

https://www.facebook.com/tonyrenaissancex/videos/vl.277041059662471/448414695689633/?type=1

Tony identifiziert sich als genderfluid. »Gender ist für mich etwas, was in ständiger Bewegung ist, es ist nicht festgeschrieben. Gender ist wie ein Farbspektrum, für manche ist ihre Identität auf eine Farbe fixiert, oder komplett außerhalb. Genderfluid bedeutet für mich, dass die Farbe sich ständig verändert. Für mich ist Gender etwas sehr Persönliches, Intimes.«

Gender hat bei Tony aber keinen direkten Einfluss auf die Musik: »Was da passiert, ist ein Experimentieren mit Sounds, Vocals, Songstrukturen, Lyrics etc. Natürlich ist meine Musik queer, weil ich mich als queer identifiziere, aber meine Geschlechtsidentität spielt bei der Musikerzeugung selbst keine Rolle.«

Musik als kollektiver Prozess

Für Zosia Hołubowska, die Person hinter dem Projekt Mala Herba, hängen Musik und Queerness hingegen eng zusammen: »Ich habe keine endgültige Antwort, was queere Musik für die gesamte Menschheit bedeutet. Aber ich weiß, was es für mich bedeutet. In jeder Musik steckt immer eine Erfahrung drin, eine Position, ein Zugang zu dieser Musik. Für mich geht es dabei um Improvisation, verstanden als aktives Zuhören. Es geht darum, Räume zu öffnen, um verletzbar zu sein und Fehler zu machen, weil so lernen wir. Ich denke auch, dass queere Musik sehr stark mit der Community verbunden ist. Um mich sind so viele Leute, die mir auf ganz unterschiedliche Arten helfen. Ich sehe Musik als kollektiven Prozess und als grundlegend in der Community verwurzelt.«

Früher hat sich Zosia einfach als queere Person identifiziert: »Aber irgendwann poppte dann dieses Wort non-binary auf. Das hat mich direkt angesprochen. Zwar fühle ich, als Frau geboren zu sein und dieselben Erfahrungen von gegenderter Gewalt und Unterdrückung zu haben, aber ich fühle mich unwohl, wenn Menschen mich als Frau oder als Mädchen bezeichnen. Ich fühle das als Bürde, denn es kommt mit diesem ganzen Berg an Verpflichtung.«

Mala Herba © Tina Bauer
Mala Herba © Tina Bauer

Mala Herbas Musik klingt tatsächlich, als hätte sie tiefe Wurzeln. In traditioneller polnischer Musik sucht Zosia, »die kleinen Brüche und Öffnungen, die es erlauben anders zu sein«. Zosia freut sich über jeden dieser kleinen Punkte und verbindet sie anschließend mit harten Techno-Beats. Auch bei Mala Herba wird die einzelne Stimme chorisch, weckt Erinnerungen an osteuropäische Frauenchöre. Alles wirkt treibend, immanent tanzbar. Hinzu kommt Mala Herbas Performance in dickem Make-up und tiefschwarzem Outfit.

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