Die Ukraine hat als junges Land verhältnismäßig viel durchgemacht; die komplette wirtschaftliche Planlosigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion, das daraus entstehende Machtvakuum, die darauffolgende Kriminalität und Korruption und schließlich der Versuch einer Identitätsfindung. Als riesiger Landfleck, der geopolitisch als Puffer zwischen den NATO-Staaten und Russland immer wieder wortwörtlich unter Beschuss steht, wagte die ukrainische Kulturszene einen Protest der anderen Art: das Zurückgreifen und Referenzieren auf die eigenen Wurzeln.
Kulturelle Resilienz
Acts wie Dakha Brakha, Dakh Daughters, Folknery oder Katya Chilly Group können dank traditioneller ukrainischer Harmonien und Volksgesänge bereits nationalen, aber auch internati- onalen Erfolg verzeichnen. Der regelrechte Boom in der Ukraine rund um traditionelle und heidnisch anmutende Musik mit explizit ukrainischem Gesang kommt nicht von ungefähr. Durch die Russifizierung bis zum Fall der Sowjetunion litt nicht nur die ukrainische Sprache, sondern auch die Kulturszene. Erst in den 90ern tauchten Acts wie Vopli Vidopliassova oder die Rockband Okean Elzy in der von russischem Pop dominierten Musikszene auf. Bis in die Nullerjahre hinein war es trotz dieser WegbereiterInnen unüblich, Lieder aus der Ukraine im Radio zu hören. Im Jahr 2016 wurde daher sogar eine Radioquote von mindestens 35 Prozent für ukrainische Musik eingeführt, die nun im Jahr 2020 erste Früchte zu tragen scheint.
Aktivismus durch Fokus
Apropos Politik: Die gesamte ukrainische Musikszene war in der einen oder anderen Form an der Orangenen Revolution (2004–2005) sowie den Protesten am Maidan (2013–2014) beteiligt, was mit dem Risiko einhergeht, nie wieder in Russland auftreten zu können. Bezeichnend zur Zeit der zweiten Protestwelle war unter anderem die Geburt einer stillen, namenlosen Musiklegende, die in der Ukraine bis heute als eine Art Nationalheld gefeiert wird: ein Klavierspieler an der Front, ausgestattet mit einem verstimmten Piano, einer Maske und einer schusssicheren Weste. Er spielte alles Mögliche – Klassik, Balladen und eben auch die ukrainische Hymne. Sein Protest bestand darin, einfach zu existieren und weiterzuspielen. Egal, ob die Waffen des Gegners gerade auf ihn gerichtet waren oder nicht. Das Ziel war es weiterzumachen. Seine Haltung steht symbolisch für die gesamte Musiklandschaft, die trotz Aufständen, Protesten, Krieg und der Annexion der Krim um das (künstlerische) Überleben kämpft und mindestens genauso militant den Fokus auf das »Weitermachen« hält wie der Gegner seine Waffen.
Identitätsfindung
Durch die Renaissance der volkstümlichen Klänge ergab sich bald eine Mischung aus moderner Produktion und Tradition. Projekte wie Onuka, Alina Pash, Jamala, Kazka oder Alyona Alyona erschaffen gerade ein eigenes Subgenre aus Beats, zeitgenössischer Produktion und epischem Gesang oder Rap in traditionell ukrainischen Tonleitern, das unglaublich innovativ, ethnisch und ausdrucksstark ist. Diese, wohlgemerkt überwiegend weiblichen, KünstlerInnen, setzen nicht nur landesweit neue Maßstäbe, sondern reihen sich auch qualitativ mühelos neben internationalen Acts ein.
Auch Projekte wie Kalush (Trap, Urban), Odyn v kanoe (Indie, Pop), Jinjer (Metalcore) oder Karna (Rock), die sich stilmäßig mehr an konkreten Genres orientieren, referenzieren in Musikvideos, Samples oder Songtexten entweder historische, ukrainische Figuren, Bräuche, Kleidung oder eben die momentane politische Lage.
Die »Aus alt mach neu«-Devise wird sich in den kommenden Jahren wohl ihrem Höhepunkt nähern und könnte der neue frische Windhauch aus ethnischer, fast spiritueller Musik und futuristischer Elektro-Produktion werden. Daraus Inspiration schöpfen können wir aber jetzt schon.
Mascha Peleshko ist Musikerin, Künstlerin und Autorin mit ukrainischen Wurzeln. Sie zeigt in ihren Werken – zum Beispiel im Song »Liebe siegt« – politisch klare Kante. Dieser Text ist in der The Gap Sonderausgabe zum Waves Festival 2020 erschienen. Das Wiener Showcase-Festival hat dieses Jahr die Ukraine und das United Kingdom als Fokusländer ausgewählt.