Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im November 2020

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

Kala Brisella © Leroy Hawelky
© Leroy Hawelky

Ansa Sauermann – »Trümmerlotte«

Ansa Sauermann © Gwen Meta
Ansa Sauermann © Gwen Meta

Der Umzug als inspirierender Kickstarter, das kennt man. Wer auf einmal die Wolkenkratzer statt dem Rapsfeld anstarrt, kommt auf ganz andere Ideen. Und dass der Dresdner Ansa Sauermann nach Wien zieht, hat natürlich auch auf sein Wirken einen Einfluss. Na logo: Die Ansa Panier vom Voodoo Jürgens – bitte die zweifache Ansa-Sache beachten –, der Fuzzmann, die Pauls Jets, die sind alle auf dem Album zu hören, schließlich ist man beim Lotterlabel eine Familie. Na gut, im Großen und Ganzen ändert sich jetzt im Vergleich zum bereits sehr cool gewordenen Vorgänger »Weiße Liebe« nicht wahnsinnig viel, quasi seit der noch besseren Debüt-EP von 2017 – »Reise« hieß die – ist das Konzept recht ähnlich: Vitaler und gleichzeitig sehr stimmungsvoller Pop mit Verve, wo man schon auch mal recht stampfend tanzen kann. Atmosphärisch und musikalisch sehr dicht auskomponiert, lieber gleich auf die Zwölf als nur bis halb. Das muss man dem Sauermann schon lassen: Hits kann er. Und davon ganz schön viel. Sehr schmissig, das Ganze.

»Trümmerlotte« von Ansa Sauermann erscheint am 13. November 2020 via Lotterlabel. Tour dann 2021.

Kala Brisella – »Lost in Labour«

Kala Brisella © Leroy Hawelky
Kala Brisella © Leroy Hawelky

Punkt 1: Kala Brisella sind sträflichst unterschätzt. »Endlich krank«, Ihr Debüt-Album aus dem Jahr 2017 ist womöglich der eindringlichste Beweis dafür, dass deutschsprachiger Post-Punk in den letzten Jahren einen qualitativen Quantensprung durchlebt hat. Auch das etwas breiter gefächerte »Ghost« von 2018 hatte einige starke Momente.

Punkt 2: Frisches Obst ist kein Benefit. 

Punkt 3: Work-Life-Balance ist ohnehin nur Start-Up-Blabla. »Lost in Labour«, verloren in der Arbeit, ist demnach nicht nur die Berliner Gruppe, sondern wir alle. Nur: So knackig und kantig formulieren können es bislang wohl nur Kala Brisella. »Du bist die Working Class / ein austauschbares Unikat / bist unser Working Star / wolltest du doch immer sein«, nehmen sie etwa in »Working Star« wohlfeile Verschlimmbesserungen der Unternehmenskultur aufs Korn. Schlimm ist es sowieso, zurecht eignen sich Kala Brisella vor allem die Geschichten der Gefallenen an. Dazu kracht mancherorts noch stampfend der Post-Rock, andernorts finden sich auch andere Klänge, in die schlicht unzureichende Schublade namens »Noise« passt das zwar meistens, die Schrauben drehen sich dabei aber schon mächtig aus dem Gewinde.

Punkt 4: Konsumieren Sie »Lost in Labour«. Zahlt sich aus. Anders als etwa ein unbezahltes Praktikum.

»Lost in Labour« von Kala Brisella erscheint am 13. November 2020 via Tapete Records. Noch keine Live-Termine.

Die Aeronauten – »Neun Extraleben«

Die Aeronauten © Die Aeronauten
Die Aeronauten © Die Aeronauten

Wenn ein Herz für immer stehen bleibt, brechen gleichzeitig auch tausend andere. Wenn Olifr Maurmann alias GUZ, Sänger und Liederschreiber der Schweizer Aeronauten stirbt, trauern gleich drei Indie-Nationen. Es ist einer dieser unfairen Schicksale, ein musician’s musician, der viele Herzen erobert, aber dem immer der allergrößte Durchbruch versagt bleibt. Das neue Album der Gruppe, es müsste ihr insgesamt elftes Studioalbum sein, sollte sein Extraleben sein. Nun ist es ein Abschluss, ein würdiger. Schließlich war die Gruppe schon im Februar 2019 ins Studio gegangen, aus den paar Skizzen hat man noch einmal nachjustitiert, die Stimme von Maurmann aus den älteren Aufnahmen eingefügt und so schön und fast klebrig gemacht, dass es eine Freude ist. Eine wehmütige Freude, aber eine Freude. Die herrlich crispen Soul-Bläser, der so schön vergilbte Rock’n’Roll. Die Popheit wird noch länger traurig sein und auch darüber wird dieses Album nicht hinwegtrösten können. Es wird aber dabei helfen, ein Vermächtnis zu präservieren.


»Neun Extraleben« von Die Aeronauten erscheint am 20. November 2020 via Tapete Records. Keine Termine.

All diese Gewalt – »Andere«

All Diese Gewalt © Bettina Theuerkauf
All diese Gewalt © Bettina Theuerkauf

»I am convinced that max is the thom yorke of germany.« schreibt da jemand ins YouTube rein. Ich sage: Die Nerven > Radiohead. Wobei, beide nicht schlecht. Wie dem auch sei, dass der Rieger Max eine große Nummer ist, sollte mittlerweile jeder und jede mitbekommen haben. Neben der erwähnten Gruppe ist der »Superproduzent« – wie manche sagen würden, also Drangsal, Karies und noch weit prominentere Namen – schon längst auch solo als All diese Gewalt eine dicke Nummer. Und wer so viel macht und so viel tut und so viel in Bewegung ist, der denkt auch viel. Und Rieger hat sich für sein neues Solo-Album einiges überlegt: Während der Vorgänger »Welt in Klammern«, der auch schon wieder vier Jahre alt ist – Menschenskinder! – teilweise dunkelsten Doom offerierter, ist »Andere« wirklich vergleichsweise freundlich geworden. Es ist sphärischer, melodiöser, offenherziger und damit auch verletzlicher. Fast ungewöhnlich eigentlich. Der einzelne Song steht über dem roten Faden, hier lässt sich noch die erste und namensgleiche Single hervorheben: »Andere« ist ein kompositorisches Schmückstück, eruptiv und sphärisch gleichermaßen. Er hat’s schon drauf.

»Andere« von All diese Gewalt erscheint am 6. November 2020 via Glitterhouse Records. Keine Österreich-Termine derweil.

Wiener Blond – »Bis in der Früh«

Wiener Blond © Konstantin Reyer
Wiener Blond © Konstantin Reyer

Sport, Sudoku, vielleicht noch das Fernsehprogramm. Für sonst kannst die Zeitung per se eh zu nix gebrauchen. Vor allem die Chronik, braucht kein Mensch. Eh klar, weil wenn ich wissen will, wie die gemeinen Großstädter so denken, kann ich gleich Wiener Blond hören. Schließlich haben die sich in den letzten fünf Jahren als vorzügliche Chronisten des Wiener-Seins hervorgetan. Wohl niemand versteht es so gut, diesen ganz bestimmen Flair dieser Stadt – jeder glaubt, er ist was, aber eigentlich ist er eh nix – mit einem so ungehörigen Pop-Appeal zu verbinden, dass die Lieder nicht nur sämtliche Plattformen sprengen, sondern auch sehr vielen aus ihren tschick-verseuchten Grammelschmalzherzen sprechen. Für Album Nummer drei hat man sich ziemlich lange Zeit gelassen – »Zwa« ist schon von 2016, 2019 kam auch das Streicher-Live-Album »endlich salonfähig«, die Doublier war heuer auch schon mit Prater WG ziemlich erfolgreich –, hat wieder an den elektronischen Instrumenten gedreht und sich ordentlich eingegroovt. Viel wichtiger und entscheidender aber natürlich: Die Texte. Wiener Blond richten ihren Blick natürlich wieder auf kleinen versteckten Alltagsgeschichten, auf das fehlende Ham-Ge(h)n, auf Always-on, auf Always-Down. Das Gute an »Bis in der Früh« ist fraglos: Man kriegt, was man will. Und mehr kann man eigentlich eh nie erwarten.

»Bis in der Früh« von Wiener Blond erscheint am 13. November 2020 via Crowd & Ryben. Termine: 1.12. Burg Perchtoldsdorf, 11.12. Tonkeller Horn, 18.12. Theater am Spittelberg Wien. Albumpräsentation: 25.3. im Globe Wien.

AUSSERDEM ERWÄHNENSWERT:

Zinn – »Zinn«

(VÖ: 20.11.2020)

Stand jetzt sollten alle die aktuelle Ausgabe von The Gap gelesen haben: Dass das Debüt der Gruppe Zinn die Höchstbewertung 9/10 bekommen hatte, dürfte genauso bekannt sein. All jenen, die das immer noch nicht glauben können, sei gesagt, dass dieses Riesentrumm von Album so anmutigen Dark Folk im Dialekt präsentiert, man könnte denken, es kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der einfach vieles ein großes Stück noch trauriger ist. Und das ist gut so.

Gebenedeit – »Missgeburt. Macht eine Messe!«

(VÖ: 1.11.2020)

Apropos aktuelle Ausgabe von The Gap: Dort gibt es kein Vorbeikommen an Lydia Haider, die nicht nur mit ihrem aktuellen Buch und zugehöriger Präsenz die Kommentarspalten des Standard beschäftigt, sondern als Gesicht der Gruppe gebenedeit gerade für Furore in den heimischen Musikmedien sorgt. Das Album ist bestimmt weder musikalisch noch inhaltlich für den Massenkonsum gedacht oder geeignet, sollte mit seinem – nennen wir es so – sakralen Doom aber auch sein Publikum finden.

Dreimalumalpha – »Jugend ans Geld verloren«

(VÖ: 13.11.2020; geänderter VÖ: 4.12.2020)

Die Innsbrucker Gruppe Dreimalumalpha schreibt sich das Melodiöse auf die Strehkragen: Traumwandlerischer Indie-Pop mit einer kleiner Brise Drama, der eigentlich gar nicht so häufig von österreichischen Bands gespielt wird oder schon länger nicht mehr gespielt wurde. Das Debütalbum – 2018 gab es die EP »Bleib zurück« – ist ein Kleinod für all jene, denen eigenwilliger und manchmal süßer Pop am Herzen liegt. Er hat nämlich mächtig Potenzial an selbiges zu wachsen. Sehr cool!

V.A. – »Wir müssen hier raus: Eine Hommage an Ton Steine Scherben & Rio Reiser«

(VÖ: 20.11.2020)

Achtung, im folgenden Absatz kann es zu Name-Dropping kommen. Insgesamt 21 Gruppen sind auf diesem Tribute-Sampler für die womöglich einflussreichste deutsche Band vorhanden. Manche Stücke kennt man schon (etwa jenes von Rocko Schamoni, Jan Delay oder Wir sind Helden), manche wurden exklusiv für den Sampler intoniert (etwa von Neufundland, Gisbert zu Knyphausen, Erregung Öffentlicher Erregung, Patrick Richardt, Östro 430 oder Die Höchste Eisenbahn). Unter den noch nicht genannten KünstlerInnen befinden sich auch etwa Die Sterne, Bosse oder Fehlfarben. 

Alarmbaby – Killamädchen

(VÖ: 20.11.2020)

In other news: Die Zielgruppe, der Jennifer Rostock zu Boomer und Grossraum Indie Fresse zu GNTM ist, ist riesig. In diese Lücke stößt das vermeintliche Marketingprodukt Alarmbaby aus Mannheim, das ganz schön solchen macht. Die Songs auf dem Debütalbum – wer heute noch »Mädchen« sagt ist dings – handeln vom Feiern, von Influencern, von der AfD (klare Kante zeigen!), vom Hass auf die eigene Generation, von solchem Kram. Ja, ne, is’ klar.

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