George Floyds Ermordung und die darauffolgende globale BürgerInnenrechtsbewegung haben erneut gezeigt, wie mächtig Protest sein kann. Soziale Bewegungen mobilisieren Massen auf der ganzen Welt und schaffen es immer wieder, große Veränderungen zu bewirken. Dafür reicht es nicht, nur einmal auf die Straße zu gehen. Aktivismus braucht Strategie, Planung und Langfristigkeit, muss sich aber ständig wandeln. Wie gelingt das? Auf der Suche nach dem Rezept für langfristige Veränderung.
»Wenn ich meine Braids abnehme, bin ich immer noch Schwarz«, sagt Noomi Anyanwu. Die Menge vor ihr jubelt zustimmend, einige Menschen klatschen über Kopf in ihre Hände, im Hintergrund hört man die »Black Lives Matter«-Rufe vom anderen Ende der Demonstration.
Es ist der 4. Juni 2020, der Abend jener Black-Lives-Matter-Demo in Wien, die bald als die größte Demonstration in Wien seit Jahren gelten wird. Viele, die heute gekommen sind, kennen das Gefühl, das Anyanwu beschreibt. »Ich bin immer Schwarz«, sagt sie. Die 20-Jährige steht auf dem Demowagen vor der Karlskirche in Wien. Der Platz ist so voll, dass man den Boden kaum erkennt. Jedem und jeder Einzelnen versucht sie ins Gesicht zu sehen. »Ich kann nicht ablegen, nicht loswerden, wer ich bin«, sagt Anyanwu, »meine Lebensrealität ist nicht die Weißer Menschen.« Auch hier in Österreich gibt es Rassismus, Polizeigewalt. Noomi Anyanwu möchte Mut machen in diesem großen Moment für Österreichs Schwarze Geschichte. Später wird sie erfahren, dass 50.000 Menschen auf der Demo waren. 50.000 für eine gerechtere Welt. Doch sie möchte nicht nur Teil eines großen Moments sein, sondern Teil einer Bewegung. Wie wird eine Demonstration zu langanhaltendem Protest?
Soziale Bewegungen mobilisieren wie plötzlich Massen, werfen Gesetze um. Ihre Methoden und Ursprünge sind vielfältig, ihr Ziel ist immer ein ähnliches: Wandel, langfristige Veränderung. Die Geschichte hat gezeigt, dass das funktionieren kann. Immer neue Wellen von Frauenbewegungen waren zentral für Errungenschaften wie Wahlrecht und rechtliche Gleichstellung der Frau, nach den Protesten von 1968 wurde die Wehrpflicht in den USA abgeschafft, die ArbeiterInnenbewegung war wesentlich daran beteiligt, dass Mindestlöhne und Gewerkschaften eingeführt wurden. Nach den Protesten um das niederösterreichische Zwentendorf und die Hainburger Au entstanden ein Netzwerk an Umweltschutzorganisationen, Nationalparks und sogar eine Partei, die sich vor allem Umweltthemen widmet. Jüngst schafften es die Grünen parallel zu den Klimaprotesten von Fridays For Future von einer Partei ohne Sitz im Parlament zu einer in der Regierung.
»Macht endlich!«
Doch wie gelingt das? Wie werden aus wütenden Studierenden politische Akteure, wie aus Teenagern AktivistInnen mit konkreten Forderungen? Wie werden aus ein paar Hundert, die einmal kommen, ein paar Tausend, die immer wieder kommen? Menschen, die sich weigern, aufzugeben?
Soziale Bewegungen entstehen, wenn eine Gruppe von Menschen nicht gehört und gesehen wird. Sie haben oft historisch gewachsene Strukturen, bauen auf schon geschehenen Protestwellen und Organisationsstrukturen, auf älteren Kämpfen auf. Dann kommt erneut ein Moment der Empörung – das »Macht endlich!«.
Mugtaba Hamoudahs Moment der Empörung war der 25. Mai 2020. Es war der Tag von George Floyds Ermordung. »Ich habe tagelang nur geflennt«, sagt Hamoudah. Wochen zuvor war der 25-jährige US-Amerikaner Ahmaud Arbery beim Joggen erschossen worden. Hamoudah begann zu googeln, welche Namen in Österreich bekannt sind, und ihm wurde klar, wie alltäglich Polizeigewalt gegen marginalisierte Menschen auch hier ist. »Ich kannte den Fall von Marcus Omofuma, aber ich wusste nicht, wie viele andere Fälle es gibt«, sagt er, »dann habe ich gedacht, dass es ja nicht sein kann, dass wir uns immer wieder emotional mit so was auseinandersetzen müssen. Man muss etwas tun können.« Hamoudah kontaktiert eine Bekannte, die SPÖ-Politikerin und Ärztin Mireille Ngosso. Sie unterstützt ihn sofort, danach auch Noomi Anyanwu, die daraufhin ihre Rede vorbereitet. Es soll eine Kundgebung sein, die sie kurzfristig zu einer Demo machen – ein paar Hundert Menschen, Reden, Musik. Ein Programm, das nicht funktioniert – zu groß ist der Andrang. Das Moment der Empörung wirkt. Black Lives Matter, ein dezentralisierter Protest, der seit Jahren ein Begriff ist, wird mit dem Mord an George Floyd zu einer riesigen, weltweiten BürgerInnenrechtsbewegung.
Macht endlich! – Das fordert seit rund eineinhalb Jahren auch die Klimaschutzbewegung Fridays For Future. Rund hundert Leute waren beim ersten Streik im Dezember 2018. Sechs Stunden am Heldenplatz, angefrorene Finger und die heute bekannten Streikschilder in der Hand. Seitdem hat sich viel getan, aus den Hundert sind Zehntausende geworden. Eine Masse, die einem das Gefühl gibt, dass eine ganze Generation die Zukunft einfordert, die ihr zusteht. Eine Masse, die die Politik nicht mehr auffordert, sondern mit Nachdruck ermahnt. Die Klimakrise ist plötzlich Thema in Talkshows und Titelgeschichten, im Wahlkampf, im Parlament. Es ist eine komplexe und schnell gewachsene Bewegung, die sich organisieren muss.
Von der Demo zur Bewegung
Soziale Bewegungen stehen immer in einer Spannung zwischen Stabilität und Offenheit. Sie sind keine NGOs, jeder und jede kann mitmachen. Wer kommt, ist dabei. Aber sie brauchen auch Menschen, die sich dauerhaft engagieren, die immer wieder kommen, die die Bewegung zu einem ihrer Lebensmittelpunkte machen. »Die Frage ist, wie eine Bewegung flexibel auf gesellschaftliche Bedingungen reagieren kann, aber im Kern doch stabil bleibt«, sagt Philipp Knopp. Der Soziologe an der Universität Wien forscht zu sozialen Bewegungen. Er weiß: Sie müssen sich immer wieder dieselben Fragen stellen und intern zwischen unterschiedlichen Positionen verhandeln: Wie geht es weiter? Wie können wir gestalten? Welche Identität wollen wir in Zukunft haben?
Aktivismus funktioniert nicht nur über ein Dagegen, es geht darum, dass man etwas verändern, mitgestalten möchte. Und dafür mitunter viel riskiert. »Wenn man für etwas auf die Straße geht, zeigt man, dass das eine wichtige Sache ist«, sagt Soziologe Knopp, »das ist eine starke Position, für die man immer auch etwas aufs Spiel setzt.« Personen, die von Polizeigewalt in ganz besonderem Maße betroffen sind, setzen sich bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt, die von PolizistInnen begleitet wird, ganz klar einer nicht zu unterschätzenden Gefahr aus.
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