Deutscher Punk. Eine Bestandsaufnahme

Die Nerven sind die neuen Posterboys intellektueller deutschsprachiger Rockmusik. Wie das und der deutsche Punk so zustande gekommen sind, erfährt man hier. Achtung: Namedropping bis zum Exzess.

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Jetzt ist schon wieder was passiert. Und es ist dir sicher auch schon aufgefallen. Die Nerven sind jetzt überall. Ob in Mainstreammedien wie österreichischen Tageszeitungen – wo sie als das beste deutsche Trio seit Trio bezeichnet werden –, ob in sich als alternativ verstehenden Radiosendern und natürlich auch in den großen deutschsprachigen alternativen Musikmagazinen. Die Nerven aus Stuttgart stehen stellvertretend für eine Szene, die unterschiedlicher nicht sein könnte.

Die Nerven, das sind Max Rieger (git, voc), Kevin Kuhn (dr) und Julian Knoth (git, voc), drei Anfangzwanziger aus Stuttgart, die bereits mit ihrer ersten Langspielplatte (und „Fluidum“ erschien nur auf Vinyl) ein paar Jahresbestenlisten füllten, auch wenn der Releasetermin im Dezember 2012 diesbezüglich ein bisschen unglücklich ist. Bereits zuvor konnte man sich von den Fähigkeiten überzeugen. Die im März des selben Jahres veröffentlichte EP „Asoziale Medien“ wird im Herbst 2014 rereleast. Aber insbesondere die Single „Sommerzeit Traurigkeit“, die man auf der Bandcamp-Seite gratis beziehen kann, erreichte eine kleine, interessierte Öffentlichkeit und brachte Die Nerven aufs Tableau. Ihre Version von Lana Del Reys Top-10-Hit versucht sich in der wortgetreuen Übersetzung und überzeugte durch ihre Interpretation von knarzigem Post-Wave und Post-Punk.

Danach versuchten sich die Bandmitglieder in verschiedenen, größtenteils unter dem Slogan von Spaßbands firmierenden Nebenprojekten: Max Rieger veröffentlichte mit seinem Projekt All diese Gewalt deepen Drone, auf zwei EPs (eine mit den anderen Nerven gemeinsam) folgt im März die erste 12“ „Kein Punkt wird mehr fixiert“. Julian Knoths Peter Muffin schmiss schon einige EPs in den digitalen Äther, zusammen mit Kevin Kuhns Alter Ego Melvin Raclette sogar mehrere herrlich skurrile Weihnachtsalben.

Fun

Anlässlich des soeben erschienen, zweiten Albums „Fun“ ist die Gruppe nun allgegenwärtig. Dabei ist das neue Werk nur die konsequente Fortführung des Debüts „Fluidum“. Die Ähnlichkeiten beginnen schon beim Artwork und beim Cover, das erneut wortlos ein Porträtbild eines geschlechtlich schwer einschätzbaren Menschen zeigt. Stilistisch bleibt einiges gleich, in der Konsequenz geht aber alles mehr nach vorne. Die ein- und nachdringlich agierende Rhythmussektion lässt wohl niemanden kalt und erzeugt das permanente Gefühl, mitstompen zu müssen. Aus Erfahrung kann man sagen, dass das allen, die im selben Abteil im öffentlichen Verkehrsmittel – Achtung, das bietet sich jetzt leider an – auf die Nerven geht. Insgesamt also ein solides Album – 7/10, wenn man so will. Der Innovationsgrad hält sich allerdings in Grenzen.

Aber braucht es drei bleiche Jünglinge, um einem Genre als Coverboys zu dienen? Natürlich bieten sich Die Nerven perfekt dafür an: Jung, erfolgreich, fesch. Im DerStandard-Forum meinte jemand sogar, Drummer Kevin Kuhn sehe aus wie der junge Nick Cave. Problematisch ist allerdings, dass durch die Omnipräsenz der Drei, sämtliche alternative, intellektuelle, sich dem Punk verpflichtende, deutschsprachige Rockmusik, unter den Teppich gekehrt wird und andere, in Szenekreisen größtenteils seit Jahren bekannten und guten Künstler nicht in den alternativen Mainstreammedien (ja, so etwas gibt es) vorkommen.

Da wir uns selbst als alternatives Mainstreammedium sehen, soll dieser Artikel eine Bestandsaufnahme deutschsprachigen Post-Punk, Post-Wave, Post-Hardcore, Post-Whatever sein, eine Inventarliste des guten Geschmacks, wenn man so will. Eine Geschichte des Genres, mit Fokus auf Aktualität.

The Story Begins

Wie jede gute Geschichte beginnt auch diese hier am Anfang, besser gesagt 1984. In Orwells Jahr hatte die deutschprachige Punk-Welt natürlich bereits einiges gesehen und gehört: Die großen, bekannten und bereits wieder ausgelutschten Vorreiter aus den UK und den USA, den 82er Hardcore, auch aus UK und den USA. In Deutschland war man nicht gerade verwöhnt mit großen Vorbildern. Klar, Ton Steine Scherben waren von 1971-75 so richtig relevant, nach dem Rückzug aus Berlin und dem Politischen, verloren sie jedoch massiv an gesellschaftlichen Einfluss. Das erste Album der Fehlfarben, „Monarchie und Alltag“ von 1980 gilt zwar als wichtigstes Referenzwerk von frühem deutschsprachigen Punk – ebenso wie die ersten Alben von Abwärts – es hat allerdings ein paar Jahre gedauert, bis die Szene so richtig explodiert ist. In der Zwischenzeit kam eine legendäre Band auf das Tableau, EA80, die in ihren Anfangsjahren – die Band ist bis heute aktiv – dem britischen Post-Punk und frühem Wave der Säulenheiligen des Post-Punks Joy Division und The Cure verpflichtet waren.

Bild(er) © This Charming Man (x2) / Euphorie (x2) Abgebildet sind (v.o.n.u.): Die Nerven, Messer, Trümmer, Zucker
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