Auch wenn »Ich vs. Wir« ihr politischstes Werk ist, erweisen sich Kettcar weiterhin als perfekte Begleiter eines großen Sehnsuchtsgedankens: des Ausbruchs aus allem Alltäglichen.
Sie sind zum Glück rar, die Tage im Leben, die alles auf den Kopf stellen, alles aus den Fugen geraten lassen. Das E-Mail, dass der Flug in den Urlaub, auf den man das ganze Jahr gespart hat, ausfällt. Die Nachricht vom Arzt, dass doch nicht alles in Ordnung ist. Eine Kündigung, ein Trauerfall, das Ende einer Liebe. Aber es gibt auch gute Nachrichten, unverhofft, aber umso schöner. Den Anfang einer Liebe. Ein neues Kettcar-Album, das erste seit fünfeinhalb Jahren. Lange Jahre, in denen man dessen Vorgänger »Zwischen den Runden« wie auch die anderen drei Alben der Band immer bei sich getragen hat – Musik, die man eng mit besonderen Erlebnissen verbindet.
Beobachtet, analysiert, kanalisiert
Marcus Wiebusch hat seiner Band – 2014 ist sein Soloalbum »Konfetti« erschienen – Zeit gegeben, es wurde beobachtet, analysiert und schlussendlich kanalisiert. Auch wenn die Vorabsongs, wie die anfangs seltsam anmutende Spoken-Word-Nummer »Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)« und »Wagenburg« es vermuten hätten lassen: Es ist kein ausschließlich politisches Album geworden. Klar, Kettcar sind wenig überraschend dagegen, die sogenannte Flüchtlingskrise ist Thema, die gesellschaftliche Verwahrlosung des (ehemaligen) Ostens auch – Montagsdemos vs. Einerseits-andererseits-Diskussion am WG-Küchentisch.
Seine großartige Beobachtungsgabe stellt Wiebusch aber vor allem wieder hinsichtlich jener Begrifflichkeit, die Kettcar als solche etabliert haben, unter Beweis: Befindlichkeitsfixiertheit. Längst geht es nicht mehr darum, dass im Taxi geweint wird, es geht ums Kleine im großen Ganzen, um Gentrifizierung, um Freiheit als Drohung, um Rückzug in die neue Altbauwohnung. »Wir haben ein Leben Zeit und das muss dann auch mal reichen.« Wiebusch schafft Figuren in der biederen Normalität – mit einem Storytelling besonderer Art, mit Zeilen, die sich so manche/r vor Jahren noch auf den Oberschenkel tätowiert hätte: »Nächster Halt, Klischeehölle Mitte«.
Man darf, man muss es Kettcar hoch anrechnen, dass sie einen nach so langer Abwesenheit sofort wieder packen, sofort an einen heranrücken. Dass sich nichts ändert, musikalisch, textlich, ganz in einem drinnen. Kettcar vereinen alles. Wir können davon nur träumen.
»Ich vs. Wir« von Kettcar erscheint am 13. Oktober 2017 bei Grand Hotel van Cleef. 2018 geht’s dann auch auf Tour – mit Stationen in Wien (20. Jänner, FM4-Geburtstagsfest) und Graz (21. Jänner, PPC).