Er muss gehen in tiefer Schlucht
Rainald Goetz schreibt wieder, denn einer muss es ja machen: Am eigenen Leib vorführen, wie man beim prima Leben und Schreiben in der Gegenwart grandios scheitert.
Das Aushängeschild des Suhrkamp-Pop und der für ein Magazin für Popkultur vielleicht wichtigste deutschsprachige Schriftsteller der 90er, Rainald Goetz, schießt nach sieben Jahren ohne Veröffentlichung endlich wieder im gewohnten Tempo Bücher raus. Nach dem 2008 in Buchform erschienenen Vanity-Fair-Blog „Klage“ liegt nun das schmale Bändchen „Loslabern“ vor. Und im gewohnten, überkandidelt größenwahnsinnigen Gestus kündigt Goetz nach „Heute Morgen“ damit gleich die nächste Mega-Reihe der Mitschrift eines Jahrzehnts an, die er dann bis zur fünften Dezimalstelle gliedert, in diesem manischen Ordnungswahn aber nicht durchhalten wird. „Loslabern“ ist das, was man als Fan erwartet hat – ein zugleich vernichtendes und hymnisch-lobendes Urteil. Denn die Erwartungserwartung der überraschenden Volte nicht zu erfüllen, ist wohl die Überraschung des Buches. Einfacher ausgedrückt: „Loslabern“ ist der alte Goetz in Hochform.
Der große Gegenwarts-Chronist und Schein-Affirmist labert in scheinbar neuer Lockerheit im minutiösen Plapperton los, erzählt so detailverliebt wie drauflos von drei Abenden im Krisen-Herbst 2008: Frankfurter Buchmesse, FAZ-Empfang und ein Abend für Albert Oehlen. Dazwischen treibt er die üblichen Zwischenüberschrifts-, Motto-, Listen-, Medienprotokoll- und „Lyrik“-Späßchen und streut dazu sogar zwei (vielleicht von seinem angeblich in den sieben mageren Jahren versuchten Familienroman-Projekt abgefallene) durch den Christian-Kracht-Fleischwolf gedrehte Ernst-Jüngereske, beinah unerträglich unironisch gemeinte Erzählungs-Fingerübungs-Fragmente, die so auch aus dem Drehbuch von „Das weiße Band“ stammen könnten. Neben die meisterhafte Konstruktion von Unmittelbarkeit und Gegenwart tritt weltabgewandte Sperrigkeit.
Diese Inhomogenität ist Programm: Goetz schwebt eine All-in-one-Literatur vor. Statt eines linearen Romans ist „Loslabern“ ein Buch, das alles, was es dazu noch zu sagen gibt, bereits enthält. Durch den Stream of (Un-)Conscienceness dreht Goetz dabei neuerdings Literatur und die großen Feuilletonthemen statt Fernsehen (das Internet straft Goetz traditionell mit Ignoranz, wohl weil er den ganzen Blogosphären-Wahnsinn damals mit „Abfall für alle“ bereits Jahre, bevor es Mainstream wurde, ausprobiert und für sich abgehakt hat).
Was Goetz seit jeher ausmacht, ist seine Textmaschine, die aus Leben Text generiert und die die Fragen stellt, wie man für guten Text leben soll und wie für gutes Leben schreiben (und wie zwischen diesen Polen vermitteln). Goetz versteht sich als ein lebendes Experiment zur Entwicklung optimaler Textproduktionsbedingungen. Ein gar nicht so heimliches Thema ist dabei das Verhältnis von Kritik und Affirmation bzw. die Frage, wie es funktionieren soll, Gegenwart in all ihrer Widersprüchlichkeit mit- sowie in einen Text zu kriegen, ohne dass es zu einem kulturpessimistischen Gefasel oder zu einer Apologie des Bestehenden verkommt. Wer von Goetz erwartet, wie früher in diesem Problemfeld wieder einmal ganz vorne dran zu sein, kann nur enttäuscht werden, denn: „Vorne“ gibt es in diesen unübersichtlichen Nullzigern, von denen „Loslabern“ berichtet, eben nicht mehr. Es gibt nur mehr viele, partikulare „Für uns ist ‚vorne‘ in dieser Richtung“, von denen keines ernsthaft Diskurshoheit behaupten kann. Für Goetz‘ Poetik der aktuellen Dringlichkeit ist das fatal. Darum macht dieses merkwürdige altmodische und gegenwärtig-fröhliche Buch „Loslabern“ ratlos: So geht es nicht mehr, aber anders geht es auch nicht.