Wie weit muss man fahren, um sich selbst zu finden? Auf Highways und Landstraßen gehen Roadmovies dieser Frage auf den Grund. Die Protagonist*innen von »Sugarland« und »Callas, Darling« sind auf der Suche nach Antworten, Freiheit und Identität.

Die 1960er-Jahre: Eine Faszination für die unendlichen Weiten der USA ereilt das Kino. Die Bewegung in die Ferne wird zur antreibenden Kraft von Roadmovies, deren Protagonist*innen scheinbar ziellos unterwegs sind. Auch zur Diagonale nach Graz führt der Weg des automobilen Films. Sowohl »Sugarland«, das Langfilmdebüt der österreichischen Filmemacherin Isabella Brunäcker, als auch »Callas, Darling«, jenes von Julia Windischbauer, begeben sich auf die Straße.

Blinde Passagiere
Mit ihrer übergroßen Lederjacke erinnert Iga an James Dean, das Idol der amerikanischen Freiheit, dem die Straße selbst zum Verhängnis wurde. Die Hauptfigur des Spielfilms »Sugarland« tritt zunächst kühl und unzugänglich auf. Auf ihrer Fahrt nach Norden will sie in sich gehen. Ihre geplante Introspektion wird jedoch von einem unverhofften Beifahrer gestört. Der etwas zwielichtige Brite Ethan schließt sich Igas Reise über Frankreich nach Schottland an. Zwischen Motels, Autofähren und urigen Kleinstädten deutet sich eine Liebesgeschichte an, die irgendwo auf der Strecke wieder liegen bleibt. »Sugarland« nimmt eine Vielzahl an Möglichkeiten in die Hand und legt sie behutsam wieder ab. Jede Reise hat ein Ziel: Der Film stellt auch die Frage, wann es Zeit wird, sich »Auf Wiedersehen« zu sagen.
Regisseurin Isabella Brunäcker ist ein Fan des Roadmovies: »Es gibt einem die Möglichkeit, eine spannende Reise mit den Protagonist*innen zu durchleben«, sagt sie. Brunäcker studierte unter anderem Film an der Schule Friedl Kubelka. 2019 wurde sie für ihre Kurzfilme und Videoinstallationen mit dem Birgit-Jürgenssen-Preis ausgezeichnet. Schon damals wies die Filmemacherin eine Sensibilität auf, mit der sie sich in ihrem Langfilmdebüt auch den beiden Figuren Iga und Ethan widmet. Dank dieser Feinfühligkeit entsteht eine vielschichtige Arbeit, der mithilfe von Referenzen auf andere Filme des Genres eine ganz eigene Interpretation davon gelingt.
»Sugarland« ist ein Roadmovie der entschleunigten Art: Da Igas Radio kaputt ist, fahren die beiden Reisenden mal in angenehmer, mal in unbeholfener Stille. Üblicherweise ist die Musikbegleitung in Filmen, die in Autos spielen, von großer Bedeutung. Der Soundtrack funktioniert dann als doppelnde Untermalung der Handlung. Bei Brunäcker übernehmen die leere Straße, die blinkenden Ampeln, die Straßenschilder und die Abenddämmerung diese erzählerische Aufgabe.

In der Ruhe liegt die Kraft
In der Stille zwischen den Figuren liegt auch eine Schwere. Denn sowohl Iga als auch Ethan haben Unsicherheiten und Geheimnisse im Gepäck. An diesen Schattenseiten spürt man den Einfluss diverser Roadmovie-Vorgänger, von dem die Regisseurin spricht: »Ich wollte eine Art ›Bonnie und Clyde‹-Geschichte schreiben, eine Reise, die Gefahren mit sich bringt, spannend bleibt sowie tiefgründige Themen und Fragen unserer unsicheren Zeiten aufgreifen kann.«
Auch Julia Windischbauers Film »Callas, Darling« widmet sich den schönen Seiten der Unklarheit. Die Protagonistin ist Ende zwanzig und wird von der Regisseurin selbst gespielt. Karle sucht nach nichts weniger als dem Sinn des Lebens, ihre fünfzig Jahre ältere Beifahrerin Gerlinde spürt währenddessen ihrer Vergangenheit nach. Sie bietet Karle Geld, damit diese sie nach Albanien bringt, ins Herkunftsland ihrer verstorbenen Partnerin. Die bestechende Summe wäre gar nicht notwendig, denn die Fahrt in den Balkan entpuppt sich als Anker für die junge Erwachsene, die mit ihrer psychischen Gesundheit kämpft.

Literarischer Film
Windischbauer studierte Schauspiel in München und wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet. In Elena Wolffs »Para:dies« spielte sie die Hauptrolle und gewann damit beim Max Ophüls Preis in der Kategorie »Bester Schauspielnachwuchs«. Mit »Callas, Darling« gelingt ihr ein Regiedebüt, das literarische Qualitäten aufweist.
»Jeder Kilometer, jede Straße – wie Puzzleteile. Es war kein Bild, das wir zusammenfügten. Es war ein Gefühl«, so philosophiert Karle über ihre Reise an die ionische Küste. Und ähnlich geht es auch dem Publikum: Trotz Ellipsen und Leerstellen entsteht im Spielfilm der Oberösterreicherin eine erstaunlich konkrete Stimmung. Man ist dem Leben ganz nah – Schmerz und Verlust stehen direkt neben Freude und Zufriedenheit.
Obwohl Roadmovies auf Leinwänden zu Hause sind, stammt einer ihrer größten Einflüsse aus der Literatur: 1957 veröffentlichte der amerikanische Autor Jack Kerouac sein Schlüsselwerk »On the Road« und prägte damit nicht nur seine Zeitgenoss*innen der Beat-Generation sondern auch das Roadmovie-Genre. Mit Güterzügen, Greyhound-Bussen und gestohlenen Autos trampen die Figuren durch die Seiten des Romans. Dean und Sal sind auf der Suche nach Lebensformen abseits der Gesellschaftsnormen der 1950er-Jahre.

Grenzübergänge
Kerouacs Werk inspirierte den Dennis-Hopper-Kultfilm »Easy Rider«, eines der erfolgreichsten Roadmovies seiner Zeit. Weitere Einflüsse für das Genre stammen aus dem Western, in dem seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls die geregelte Zivilisation der freien Wildnis gegenübergestellt wird. Denn auch wer sich auf die Straße begibt, ist gewissermaßen von den Strukturen der Gesellschaft losgelöst. Reisende können anhalten, wo sie wollen, und sich nach selbstgewählten Regeln weiter fortbewegen.
Die Figuren in »Callas, Darling« und »Sugarland« leiden dennoch unter Einschränkungen. Sie müssen sich mit Sprachbarrieren, Generations- und Geschlechterdifferenzen herumschlagen. Wie nahe kann man jemand Fremdem kommen? Karle und Gerlinde stehen wie »Harold und Maude« an zwei unterschiedlichen Punkten auf der Linie zwischen Leben und Tod. Iga und Ethan geraten aufgrund divergierender Moralvorstellungen aneinander. Die Filme sind wortwörtlich grenzüberschreitend: Ihre Protagonist*innen versuchen sich an neuen Lebensweisen; der gemeinsam zurückgelegte Weg wird Zeugnis eines Zusammenwachsens.
Neue Wege
In den 1970er-Jahren verlagerte der deutsche Regisseur Wim Wenders mit seiner Trilogie »Alice in den Städten«, »Falsche Bewegung« und »Im Lauf der Zeit« den Fokus von den amerikanischen auf die europäischen Straßen. Nicht mehr die Highways der USA boten die Unendlichkeit, sondern Deutschlands filmisch noch eher unerforschte Natur. Durch Wenders chronologische Herangehensweise an den Filmprozess entstand eine ganz neue Form des Roadmovies, die einen fruchtbaren Boden für das Experimentieren seiner Nachfolger*innen bietet.
Das Genre ist bis heute nicht erschöpft: »Ich weiß nicht, ob es ein typisches Roadmovie gibt«, sagt Brunäcker. Die erzählerischen Möglichkeiten seien so vielfältig, deshalb werde es auch nie langweilig. Gleich ob Thelma und Louise den Strukturen des Alltags entfliehen oder ob Josef Hader und Alfred Dorfer in »Indien« die niederösterreichische Provinz erforschen: Mit dem Auto werden unendliche Möglichkeiten des Seins durchquert.
Es ist diese Vielfalt, die man als Resümee der Debütfilme »Sugarland« und »Callas, Darling« ziehen kann. Wie die Straße, die sich im Horizont verliert, vermitteln beide Filme ein Gefühl von Endlosigkeit. Für die einen geht es nach Südosten, für die anderen in den Nordwesten. Doch sowohl in »Sugarland« als auch in »Callas, Darling« ist der Ankunftsort nicht das Ende, sondern bloß ein Zwischenstopp auf einer viel größeren Reise. »Die Charaktere sind auf einer Mission«, so Brunäcker. Es gilt eben gleichermaßen für Iga und Ethan wie für Karle und Gerlinde wie für die beiden Filme und ihr Publikum: Der Weg ist wichtiger als das Ziel. Helene Slancar
»Sugarland« von Isabella Brunäcker feiert Weltpremiere bei der diesjährigen Diagonale. Der Film ist am 28. März um 17:30 Uhr im Annenhof Kino 6 sowie am 31. März um 20 Uhr im KIZ Royal Kino 1 zu sehen. »Callas, Darling« von Julia Windischbauer wird im Rahmen des Festivals zum ersten Mal in Österreich gezeigt, nämlich am 30. März um 20 Uhr im KIZ Royal Kino 1 sowie am 31. März um 17 Uhr im selben Saal. Außerdem ist der Film am 30. März um 20 Uhr online im Kino VOD Club zu sehen.