Nüchtern in Wiener Neustadt

22. Dezember 2016

In Wiener Neustadt kämpft Alternativ- gegen Mainstream-Kultur. Wir haben uns einen Abend lang angeschaut, was sich in der Szene dort tut. Eine Reportage von Nadine Obermüller und Theresa Ziegler.

Mit David Guetta haben wir eh gerechnet. Auch mit Remixes von 90er-Hits. Aber dann legte der DJ mit Man Bun "Uptown Girl" auf. Die Westlife-Version. Und es war klar, dass die Herrengasse in Wiener Neustadt noch ein bisschen eigener ist als gedacht.
Die "Orange Bar", in die wir uns als erstes Lokal reintrauen, hat also orange Wände. Sehr konsequent. Während wir uns nach der Bar umsehen, unterbricht der DJ immer wieder das Set, kommentiert den aktuellen Song oder singt mit. Die Kellner nehmen sich Zeit für kleine Showeinlagen mit dem Cocktail Shaker. Mit Wodka Orange und Gin Tonic stoßen wir auf unsere Mission an, die Szene von Neustadt an nur einem Abend zu erfassen.

Erste Bar am Anfang der Herrengasse – Nomen est Omen

Was an sich schon recht anmaßend klingt, passt bestens zum Sammelbegriff von Neustadt und seinen Nachbarn: "Wien Umgebung". Als wäre alles andere, was nicht Wien ist, nur der unnötige Blinddarm des österreichischen Nacht- und Kulturlebens. Gegen diese Annahme kämpfen vor allem zwei Namen, die sich seit Jahren der Alternativszene in der 40 000-Einwohner-Stadt angenommen haben: Triebwerk und Sub. Wie sehen sich Mainstream- und Alternativ-Kultur gegenseitig? Und was hat sich seit „Saturday Night Fever“ bei beiden getan? Um das herauszufinden, haben wir uns die Szene Neustadts von drei Seiten angeschaut: Den Punk im Jugend- und Kulturhaus Triebwerk, den Post-EDM im Club Sub und den Pop auf der Herrengasse.


Die drei Szene-Zentren in Wiener Neustadt: Triebwerk, Sub und Herrengasse.

Neben der Orange Bar gibt es aktuell neun weitere Lokale auf der circa hundert Meter langen Herrengasse, die mitten durch das Zentrum von Neustadt führt. Auch wenn nicht viele willig sind, uns ein Interview zu geben ("Ich bin schon zu betrunken für ein Foto"), ein paar finden wir dann doch. Als allererstes erzählt uns Bernd am Bussistand vorm "2 Raum" seine Sicht auf die Szene von Neustadt. Nirgends sonst in Österreich gebe es eine Fortgehmeile wie die Herrengasse.

Bernd (21) gibt Bussis gegen Spende.
Anstehen vorm Club "2Raum"
Emma (18) und Mariella (18) über ihre Lieblingslokale auf der Herrengasse.

Punk im Triebwerk

"Wenn man nichts zu tun hat, kommt man einfach her" – so läuft das auf der Herrengasse. Ins Triebwerk zu gehen ist hingegen eine bewusste Entscheidung. Denn am Triebwerk kommt man nicht einfach so zufällig vorbei. Man geht an Pendlerparkplätzen, einer Justivzvollzugsanstalt und Teilen einer Neubausiedlung entlang. Wenn man denkt, man hat sich jetzt endgültig verlaufen, ist man richtig. Trotz der ungewöhnlichen Lage entscheiden sich eben sehr viele Leute bewusst, dorthin zu gehen. Seit 20 Jahren ist die Bühne im Triebwerk eine Plattform für junge Nachwuchsbands, die vielleicht einmal eine Größe in ihrer Nische werden. So wie Astpai und Sex Jams, die an dem Abend spielen, an dem wir Conrad Heßler treffen.

Heßler ist seit drei Jahren Leiter des Triebwerks und trinkt Almdudler mit Rotwein. In der hiesigen Szene ist er auch bekannt als Initiator des Neustadtpunk Netzwerks. Ein Netzwerk, das in Neustadt seine Berechtigung hat, denn hier hat der Punk schon seit Jahrzehnten einen besonderen Stellenwert. Warum eigentlich? "Das hat den einfachen Grund, dass die Punk-Szene auch einfach am meisten gemacht hat selber. Die haben diesen DIY-Gedanken immer sehr hoch gehalten und gesagt 'Das machen wir, geht schon, gehen wir ab auf die Bühne'. Das war bei den anderen Szenen nicht so", erklärt Heßler.

Conrad Heßler ist seit drei Jahren Leiter des Triebwerks.

Neustadt Punk – das sind Namen wie Rentokill und Bloodsucking Zombies from Outer Space. Zum diesjährigen 20. Jubiläum im September kam eine Auswahl an Triebwerk-Zöglinge beim Schlachthof Open Air wieder zusammen.
Eben diese Courage, sich einfach mal auf die Bühne zu stellen, vermisse Heßler an jungen Nachwuchsbands. "Der Anspruch an sich selber ist viel höher. Es werden auch insgesamt weniger Bands, die nachkommen", sagt er.

Vielleicht auch, weil das kulturelle Leben für Jugendliche in Neustadt an Vielfalt verliert. Der Wechsel auf eine bunte Regierung 2015 hat dafür einiges getan. Die umtriebige Jugendinitiative "Megafon" wurde nach sieben Jahren eingestellt, das Triebwerk selbst bekommt für 2016 und 2017 jeweils nur die halbe Förderung der Stadt. Wie schon beim zehnjährigen Jubiläum ist das Triebwerk vom Zusperren bedroht. "Das letzte, was wir gemacht haben, sind die Handtuchrollen auf den Toiletten abzubestellen. Das war das einzige, wo wir noch irgendwie Sparpotential haben", erzählt Conrad Heßler. Es gebe zwar ein Bekenntnis der neuen Regierung, dass das Triebwerk erhalten bleiben soll, doch davon allein könne man sich nicht über Wasser halten. Unter #triebwerkbleibt haben sich schon Protest-Stimmen aus der Neustädter Szene gemeldet. Zumindest bis 2017 kann sich der Kulturverein noch finanzieren. Der Wille im Verein und im Team sei eben sehr groß. "Andererseits macht man sich so auch erpressbar. Am Ende des Jahres kann der Fördergeber dann sagen 'geht ja eh'", so Heßler.

"Das letzte, was wir gemacht haben, sind die Handtuchrollen auf den Toiletten abzubestellen. Das war das einzige, wo wir noch irgendwie Sparpotential haben."

—Conrad Heßler, Leiter des Triebwerks
Triebwerker warten auf den Auftritt von Astpai.

Das Triebwerk ist in einer Umbruchphase. Nicht nur aus finanzieller Not. Das Gelände am Schlachthof will auch vielfältiger genutzt werden. Als Project Space, als Veranstaltungsort für Workshops, zum Beispiel zu Medienkompetenz. "Es hat sich viel geändert, was die Jugend betrifft. In den 90ern hat sich noch viel übers Musik machen und hören definiert und das ist heute nicht mehr so. Die Jugendlichen heute gehen auch weniger fort, das merken wir massiv zu Konzerten. Zu großen Konzerten, wie Nova Rock: ja. Zu kleinen Clubkonzerten: nein", meint Conrad Heßler. Das Triebwerk will sich weiter als Kulturvermittler positionieren, weg vom reinen Bühnen-Image. Sich weiter öffnen für die neuen Bedürfnisse der Neustädter Jugend.

Post-EDM im Sub

Genauso wie das Triebwerk kennt auch das Sub gröbere finanzielle Probleme. "Nach der ersten Saison sind wir in Konkurs gegangen. Wir haben uns wieder neu aufgestellt und das Programm, das selbst für Wiener Verhältnisse sehr kopflastig gewesen ist, weniger alternativ gemacht", erzählt Geschäftsführer Fabian Wenninger im Backoffice der alternativen Location in der Singergasse. Mittlerweile laufe es aber ganz gut, was nicht zuletzt am zweiten Standbein liegt – die Werbeagentur Sublab, die gleich nebenan einquartiert ist.

Betreiber Fabian Wenninger in seinem Sub.

Bevor das Sub 2012 mit seinem Anspruch an Clubkultur, Live-Konzerte und Veranstaltungen wie Lesungen eröffnete, tingelten die zwei damit verbandelten Wiener Neustädter DJ-Kollektive South Urban und Struttin Beats ganze zehn Jahre lang durch die Szene. Die heutige Location gehörte früher der leicht dubiosen Diskothek "Nightlife", die man bis auf die Außenmauern komplett niederriss und mit einer der besten Soundanlagen Europas ausstattete: die Wall of Bass. Ein Soundsystem in Wandgröße.
Mit Clubs in Wien oder anderswo, so Wenninger, scheue das Sub keinen Vergleich, weder im Sound noch im Line-Up. Am heutigen Abend steht Jungle am Programm, ansonsten gibt es unter anderem Drum’n’Bass, Techno, Dance-Hall oder Psytrance, aber auch – etwas offtopic – Heavy Metal-Konzerte. Für Ed Solo, den heutigen DJ-Act aus England, sind Leute aus Salzburg angereist, die, bevor es losgeht, schon ein paar Gläser heben.

"Die Wall of Bass wäre ein schöner USP, wenn wir nicht in Neustadt wären", meint Wenninger. "Wiener Neustadt ist eben nur die elftgrößte Stadt Österreichs. Zwar eine mit einem großen Einzugsgebiet, was Schulen und Studenten betrifft, aber ein Interesse für Alternativkultur ist trotzdem nicht vorhanden."

Ähnlich wie Heßler sieht Wenninger eine Ursache dafür in der Stadtpolitik. "Das Sub gehört zu den 10 Prozent der Neustädter Szene, die abseits des Mainstreams sind. Die Politik richtet sich nach den anderen 90 Prozent, was bedeutet: nach Herrengasse und Humptata Tralala. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung. Viele von meinen Bekannten gehen da ja auch hin. Ich halte es halt nicht aus."

Außerdem spiele der veränderte Zugang zur Musik eine große Rolle, der sich auf die Gegenkultur auswirke. Jugendliche würden sich kaum noch mit nur einer bestimmten Szene identifizieren, sondern eher zu Itunes- und Spotifylisten greifen, anstatt sich tiefergehend mit Musik Machen und Auflegen auseinanderzusetzen. Ist es also auch die Aufgabe von alternativen Locations in einer Kleinstadt die undankbare Rolle des Missionars einzunehmen? "Das machen wir seit 15 Jahren, aber irgendwann ist die Missionarsstellung auch fad", scherzt Wenninger.

Auch wenn Wenninger sein Zielpublikum, fernab von der Herrengasse, realistisch ins Auge fasst – die Frage, wie man als alternative Club-Location auch ein paar Leute von dort mit Veranstaltungen, bei denen meistens Eintritt zu zahlen ist, locken könnte, bleibt.

"Irgendwann ist die Missionarsstellung auch fad."

Fabian Wenninger, Betreiber des Sub

Zu den Ideen für neue Zielgruppen gehört neben eintrittsfreien Bad-Taste-Partys auch die Weiterentwicklung des ehemaligen Funsport-Szene-Events "Circus Delüxse", das zum "Schall und Rauch Festival", einem zweitägigen Musikfestival mit regionalen Live-Bands und -DJs, wurde. Oder die Etablierung des Brodtischquartiers als Neustädter Kreativspot, mit eigener Craft-Bier-Erzeugung, das im ehemaligen Künstlerviertel bald zum ersten Mal ein Gassenfest feiern wird.

Pop auf der Herrengasse

Der immer freie Eintritt ist tatsächlich für viele ein Hauptgrund, nach wie vor in die Herrengasse zu kommen. Dicht gefolgt von dem Wissen, dass man dort zwangsläufig bekannte Gesichter trifft.

Julia (16) und Kim (17) finden verlorene Freunde im Sternberg.
David (31) und Marc (26) gehen schon immer auf der Herrengasse fort.

David und Marc kommen aus Ternitz. Zu Neustadt haben sie eigentlich keinen Bezug, aber sie kennen hier die Leute und kriegen viel gratis. Sie haben ihre Jugendtage in der Herrengasse verbracht und es habe sich mittlerweile noch nichts Besseres ergeben, deswegen sind sie immer noch hier.

Die Frage, die Fortgehwillige umtreibt, ist in Wiener Neustadt dieselbe, wie überall auf der Welt: Welche Musik gibt’s dort? Und was ist da los? Für viele ergibt sich daraus die Antwort "Herrengasse". Die Auswahl dort bleibt groß, aber wenig divers.

Das erste Lokal auf Neustadts Partymeile war die GmbH. Seit 20 Jahren gibt es die Bar, die sich früher im Erdgeschoß den älteren, im ersten Stock den jüngeren Fortgehern widmete. "Unten ist zum Beispiel mehr Gin verkauft worden und oben mehr Malibu", sagt Cornelius Schwarz, Betreiber der GmbH. Mittlerweile hätten sich die beiden Floors aber durchgemischt.

Die GmbH war vor 20 Jahren die erste Location auf der Herrengasse.

"Mehr Leute sind unterwegs, also passiert auch mehr. Deshalb auch die Absperrung auf beiden Enden."

Cornelius Schwarz, Betreiber der GmbH auf der Herrengasse
Darüber, ob die Sicherheitskräfte auf der Herrengasse nötig sind, ist man sich in Neustadt nicht einig.

Überhaupt habe sich auf der Herrengasse sehr viel geändert: "Es gibt mehr Lokale, dadurch mehr Potential, mehr Leute sind unterwegs. Im Negativen: Es passiert auch mehr. Deshalb auch die Absperrung auf beiden Enden." Absperrung in Form von Security-Kräften, die die Fortgeher auf mitgebrachte Getränke und allgemeine Verfassung kontrollieren. Nicht jeder sieht das grundsätzlich positiv wie Cornelius Schwarz. "Das ist eine Entwicklung, die gefällt mir gar nicht. Ist ja eigentlich eine freie Gasse, wo man einfach durchgeht. Durch die Absperrungen ist sie tatsächlich zu einer isolierten Trinkmeile geworden", sagt Gemeinderätin Tanja Windbüchler-Souschill. Und tatsächlich gibt es einem ein ungutes Gefühl, dass der Zugang zu Neustadts Mainstream-Partyzentrum nicht jedem gleich gewährt wird.

Auch wir werden von einem der Securitys zweifelnd angesprochen, ob wir unser Bier auch wirklich auf der Herrengasse gekauft haben. Um 4 Uhr haben wir genug und treten den kalten Heimweg zum Bahnhof an. Mit uns andere Wiener, die auf den ersten Zug des Morgens warten.

Den Sound von Wiener Neustadt – von Sex Jams bis Westlife – gibt es hier zu hören: