Ein österreichischer Film mit Oscar-Chancen: »Die unsichtbare Grenze« von Mark Gerstorfer steht auf der Shortlist für den diesjährigen Oscar in der Kategorie »Live-Action Short Film«. Wir baten den Regisseur zum Interview.
Im Oktober 2023 gewann Regisseur Mark Gerstorfer mit seinem Kurzfilm »Die unsichtbare Grenze« (englischer Titel: »Invisible Border«) den Student Academy Award in Gold. Der 27-minütige Film thematisiert die Abschiebung einer kosovarischen Familie in Wien. Bei dem nächtlichen Polizeieinsatz eskaliert die Situation und lässt alle Beteiligten mit einem Trauma zurück. Welche Intentionen hinter der Geschichte stecken und wie es letztendlich zum Gewinn des Awards kam, erzählt Mark Gerstorfer in unserem Interview.
Der Film dreht sich zentral um das Thema Abschiebung. Warum wolltest du zu dem Thema einen Kurzfilm machen? Woher kam die Inspiration für den Film?
Mark Gerstorfer: In der Politik, speziell in Deutschland, wo ich recherchiert habe, brüstet man sich immer damit, wie viel abgeschoben wird und wie gut das doch sei. Für mich war allerdings interessant, um welche Menschen es sich dabei eigentlich handelt. Bei meiner Recherche ist mir aufgefallen, dass 2016 im Vergleich zu den vorherigen Jahren viel mehr Leute in den Kosovo abgeschoben wurden.
Kam daher also auch die Inspiration, eine kosovarische Familie zu porträtieren?
Genau. Speziell wenn es um Kinder geht, die in Österreich aufgewachsen sind oder hier zur Schule gehen, stellt sich bei solchen Fällen immer die Frage, was für sie der Begriff Heimat bedeutet oder wo sie letztendlich zu Hause sind. Sind sie Österreicher*innen oder Kosovar*innen? Obwohl sie hier aufgewachsen sind und nur Österreich kennen, wird diesen Kindern aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft ein Land zugeordnet und als Heimat aufoktroyiert. Das ist wirklich schwierig, hat mich aber gleichzeitig auch sehr inspiriert.
Welche gestalterischen Mittel waren für dich bei der Umsetzung des Themas besonders zentral?
Der Film hat etwas Staccatoartiges, auch durch seine Zeiteinblendungen, die dafür gedacht waren, dem Schnitt immer wieder ein paar Zeitsprünge zu geben. Die grundsätzliche Idee war, dass der Film durch die Handkamera ein bisschen etwas Dokumentarisches bekommt. Es sollte sich jedoch prinzipiell alles wie in einem Film noir anfühlen. Beispielsweise gibt es nur eine Einstellung bei Tag, alles andere spielt in der Nacht. Außerdem war es mir wichtig, mit Laiendarsteller*innen zu arbeiten.
Wie bist du an ein derart emotionales und gleichzeitig auch politisches Thema herangegangen? Hattest du im Zuge der Umsetzung Bedenken hinsichtlich der Themenwahl?
Eigentlich nicht. Ich meine, das Thema ist nun mal leider wirklich ein sehr alltägliches. Ich wollte es nur von einer anderen Seite aus beleuchten. Bei meinem Recherchepraktikum bei der Polizei, konnte ich mich mit vielen Polizist*innen unterhalten. Einer von ihnen erzählte mir dann, dass der für ihn traumatisierendste Einsatz die Abschiebung eines Vaters und seiner Tochter war. Besonders, weil er selbst eine Tochter in diesem Alter hatte. So etwas bleibt also durchaus hängen.
Wie war der Castingprozess? Warum hast du dich etwa für Temiloluwa Obiyemi als Hauptdarstellerin entschieden?
Ich schaue mir einfach Leute an und probe mit ihnen. Temiloluwa Obiyemis Figur Nancy hatte ich als Polizistin ursprünglich ein bisschen härter geschrieben. Allerdings haben mich die Empathie, die Temiloluwa persönlich miteingebracht hat, und ihre Persönlichkeit allgemein einfach extrem begeistert. Gerade deswegen war mir wichtig zu zeigen, wie schwer Nancy ihre Arbeit tatsächlich fällt. Sie ist mehr auf der Suche nach Versöhnung. Ich glaube das macht den Film auch so ein bisschen aus, dass die Hauptfigur eigentlich Versöhnung möchte, aber das nicht möglich ist in dem System, in das sie sich begibt.
Warum erzählt der Film aus der Sicht der Polizei, also der ausführenden Kraft? Warum nicht aus der Sicht der betroffenen Familie?
Ich hatte das Gefühl, dass es die Perspektive noch nicht gab oder sie immer als sehr »robotisch« dargestellt wird. Im Kino laufen oft sogenannte »Home-Invasion-Movies«, eine Art von Horrorfilmen. Die Charaktere nisten sich dabei beispielsweise auf einer Skihütte ein und kämpfen gegen die Zombies an, die von draußen versuchen, ins Haus zu gelangen. Meine Idee war es sozusagen eine Home-Invasion-Story zu verfilmen, aber diesmal von der anderen Seite aus, also von der Seite der Invasor*innen. Meine Intention war es, diese invasiven Elemente mehr infrage zu stellen.
Nancys Zwiespalt zwischen beruflicher Pflicht als Polizistin und mitfühlender Menschlichkeit ist klar zu spüren. Gibt es Momente im Film, die diesen Zwiespalt für dich besonders deutlich machen?
Auf jeden Fall. Prinzipiell ist Nancy immer der Ausgangspunkt der Beobachtung, bis auf eine Ausnahme. Durch die objektive Kamera, die zum Beispiel mit nur wenigen Schuss/Gegenschuss-Einstellungen filmt, sondern eher frontal ausgerichtet ist, schauen wir der Polizistin zwar von außen zu, kommen aber immer wieder auf sie zurück. Es gibt einen Moment, wo das unterbrochen wird. Der Reißschwenk der nun selbstständigen Kamera, wenn sich die Mutter der Familie aus dem Fenster stürzt. Das sorgt für einen Moment des Erschreckens und war ein Stilmittel, um Nancy für den Moment die Kontrolle zu nehmen.
Warum hast du dich für ein offenes Ende entschieden? War das von Beginn an der Plan?
Im Endeffekt war die Idee, dass die Familie ursprünglich geschlossen an einen Ort gebracht werden soll, aber am Ende eigentlich alles zersprengt wird. Jeder ist dann irgendwo anders. Der Vater womöglich in einem Krankenhaus, weil er einen Nervenzusammenbruch hatte. Der Sohn ist woanders. Die Tochter ist woanders. Die Mutter ist tot. Es gibt diese totale Zersprengung, als hätte man eine Handgranate hinein geschmissen, die alles zerfetzt. Das System will eigentlich vier Leute loswerden, was es letztlich auch schafft. Das Ziel, die Wohnung zu räumen, ist also eigentlich erfüllt. Nur unter welchen Umständen? Ich finde das Ende also gar nicht so offen.
Dein Film hat den Hauptpreis bei den Academy Student Awards gewonnen und es damit auch auf die Shortlist für den besten »Live-Action Short Film« bei den Oscars geschafft. Kannst du diesen ganzen Prozess kurz skizzieren? Was waren für dich da bislang die Highlights?
Ein Highlight war sicher, den Student Academy Award in Gold zu gewinnen. Damit habe ich nicht gerechnet. Man muss, um auf die Longlist von ungefähr 2.400 qualifizierten Filmen zu kommen, schon bei bestimmten Festivals gespielt worden sein und gewonnen haben. Man freut sich dann natürlich, wenn man es geschafft hat, sich allein für diese Liste zu qualifizieren. Der Aushebungsprozess, bei dem die Liste dann auf immer weniger Filme reduziert wird, zieht sich über ein halbes Jahr. Es ist wie in einer Achterbahn. Vor allem die darauffolgende Einladung nach Los Angeles war ein weiteres Highlight. Ich hatte die Gelegenheit, mit all den anderen Gewinner*innen zusammenzukommen. Das war wie so eine Art Ferienlager in Beverly Hills, bei dem man sich alles anschauen konnte. Diese Woche habe ich also sehr genossen, viel gelernt und tolle Leute getroffen.
Hatten der Gewinn und die Shortlist schon Auswirkungen? Was erhoffst du dir davon an Aufmerksamkeit für dich, für den Film, aber auch für das Thema?
Im Wesentlichen erhoffe ich mir, dass die Österreicher*innen ihren Nachwuchs ernster nehmen. Es gibt momentan wirklich gute österreichische Kurzfilme, die toll laufen und super gemacht sind. Es fehlt aber der richtige Abnehmer dafür. Wenn der ORF zum Beispiel so etwas mal im linearen Fernsehen spielen würde, wäre dem schon geholfen. Es ist so absurd: Man hat ein staatlich finanziertes Produkt, einen staatlich finanzierten Sender und die beiden arbeiten aneinander vorbei.
In Hinblick auf das Thema Abschiebung, sollte der Film versuchen, mit Leuten in einen Dialog zu treten. Es gibt so viele Filme und Dokumentationen zum Thema Migration und Abschiebung, aber ich finde, es gibt dort nur sehr wenig Dialog, durch den sich ausgetauscht und informiert wird.
Hast du Hoffnungen in Bezug auf die mögliche Oscar-Nominierung?
Naja, natürlich hoffe ich auf eine Nominierung. Sie machen es mir als Indie-Filmemacher dieses Jahr aber nicht so leicht, denn viele der in der Auswahl stehenden Filme wurden von großen Studios produziert und sind keine Indie-Produktionen mit weniger Geld, wie es sonst immer war. Das schafft natürlich eine ganz andere Konkurrenz. Allerdings ärgern sich auch viele der in der Academy wahlberechtigten Leute darüber. Man schmuggelt so eben große Produktionen in Kategorien ein, die eigentlich für Nachwuchs- oder Indie-Filme gedacht waren.
Die finale Liste der Nominierungen für die Kategorie »Best Live-Action Short Film« wird morgen, am 23. Januar 2024, bekannt gegeben. »Die unsichtbare Grenze« von Mark Gerstorfer ist über Joyn verfügbar.