Was soziale Medien uns schulen – Tiktok & Co als neue Bildungskanäle

Gerade in den letzten Jahren wird Politisierung auf Youtube, Instagram, Tiktok und X häufig mit rechter Propaganda gleichgesetzt. Dabei bieten die sozialen Medien ein reichhaltiges Potenzial, um zu vermitteln, wie wir unsere Welt aktiv mitgestalten können.

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Kurz nach Neujahr protestieren Zehntausende Menschen auf dem Ballhausplatz in Wien. Unabhängig davon postet die Anthropologin Rahaf Harfoush eine Woche später auf ihrem Instagramkanal @foushy ein Video, in dem sie das Phänomen der sogenannten »Hypernormalisierung« erklärt. Dieses beschreibt einen widersprüchlichen Wahrnehmungszustand: Auf der einen Seite sind wir uns all der strukturellen Unterdrückungsverhältnisse, der Ausbeutung und Täuschung durch politische Eliten durchaus bewusst. Auf der anderen sind wir aber alle so sehr Teil dieses Systems, dass die meisten von uns sich eine reale Alternative nicht einmal mehr vorstellen können. Wir erkennen, wie außergewöhnlich, wie surreal die Situation ist, und gleichzeitig fühlt sie sich dennoch unvermeidlich, gewohnt, normal an. Hypernormal eben. So kommt es zwar hin und wieder zu einem Aufschrei wie am Ballhausplatz, zu einer tatsächlichen Veränderung der Verhältnisse in weiterer Folge allerdings nicht.

Geprägt wurde der Begriff der Hypernormalisierung von Alexej Jurtschak, der damit jene Generation beschreibt, die sich den Zusammenbruch der Sowjetunion zwar niemals hätte vorstellen können, aber dennoch nicht überrascht war, als er schließlich passierte. 2016 kam ein gleichnamiger Dokumentarfilm von Adam Curtis heraus, der den Begriff ins aktuelle popkulturelle Bewusstsein holte. »Hypernormalisation« erzählt davon, wie Politiker*innen, Technokrat*innen, Populist*innen und der Finanzsektor aus unserer komplexen Realität eine vereinfachte »Fake World« konstruiert haben, die wir einfach hingenommen haben und die mittlerweile zur Normalität geworden ist.

Ein wichtiges Vehikel für die Propagierung dieser Konstruktion sind die sozialen Medien. Die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig spricht hier von einer »wutgeladenen Parallelrealität«, die aber zunehmend Einfluss und konkrete Auswirkungen auf unsere politische Realität habe. Doch wie sieht dieses Verhältnis von sozialen Medien zur Wirklichkeit aus? Und welche Potenziale für Politisierung und politische Bildung liegen darin?

Über ein Drittel der Österreicher*innen – genauer 37,1 Prozent – benutzten 2024 laut »Digital News Report« der Universität Salzburg soziale Medien als eine ihrer Nachrichtenquellen, 15 Prozent gar als Hauptquelle. Besonders in den Alterssegmenten zwischen 18 und 34 zählen Youtube, Instagram, Tiktok und X zu den beliebtesten politischen Informationskanälen. Gleichzeitig gaben jedoch 39 Prozent der Befragten an, bei Onlinenachrichten zwischen Fakten und Falschmeldungen kaum unterscheiden zu können.

Potenzierte Bedrohung

Gezielt gestreute Desinformation und ideologische Erzählungen sind eine allgegenwärtige Bedrohung, die sich seit dem Aufkommen von Social Media allerdings potenziert hat. Propagandastrategien verstärken Feindbilder, bestehende Ungleichheiten und den Status quo, sie spalten uns zunehmend, während der Diskurs immer weiter nach rechts abdriftet. Staaten wie Russland wissen um den politischen Einfluss von sozialen Medien und nutzen diese für heimtückische Destabilisierungskampagnen und hybride Kriegsführung, wie kürzlich Investigativjournalist*innen von Correctiv und Arte aufgedeckt haben. Und auch misogyne Persönlichkeiten aus der antifeministischen Manosphere haben soziale Netzwerke als direkte Einflusskanäle erkannt, durch die sie junge Männer radikalisieren und mächtig Profit schlagen können. Immer mehr Teenager wählen faschistische Parteien, die kein Geheimnis aus ihren Deportationsfantasien und Zerstörungsplänen für soziale Auffangsysteme machen.

Durch eine international gut vernetzte rechtsextreme Szene sowie die drohende Abschaffung von Faktencheckabteilungen müssen wir uns zudem darauf einstellen, dass digitale Gewalt noch stärker zunehmen und weniger eingedämmt werden wird. Das verstärkt immer auch Gewaltbereitschaft im häuslichen und öffentlichen Raum. Und dadurch, dass traditionelle Nachrichtenkanäle in ihrer Berichterstattung häufig unverhältnismäßige Schwerpunkte setzen und diskriminierende Narrative unkritisch wiedergeben, spielen sie den Rechtspopulist*innen in die Hände, die so die öffentliche Debatte bestimmen – etwa beim Thema Migration. Hasserfüllten Erzählungen wird damit Raum gegeben, ohne sie als das einzuordnen, was sie eigentlich sind.

Wir steuern zunehmend auf ein postfaktisches und technokratisches Zeitalter zu und verkürzte Berichterstattung findet sich leider sowohl in etablierten wie auch alternativen Kanälen, im öffentlich-rechtlichen TV-Special wie auch in dubiosen Telegram-Chats wieder. Um handlungsfähig zu bleiben, ist es deshalb wichtig, ein Gegengewicht zu haben. Soziale Medien können uns vieles schulen – und sie tun das seit zwei Jahrzehnten. Dieses Potenzial kann uns als Tool gegen faschistische Kräfte weiterhelfen, um deren Strategien aufzudecken und kritische Gegenstimmen zu Wort kommen zu lassen. Wie das funktionieren kann, erproben einige alternative Bildungskanäle bereits.

Vielgestaltige Formate

Politische Bildung hat noch nie nur aus dicken Büchern, aufgeblasenen TV-Debatten und akademischen Seminardiskursen bestanden. Formate unabhängiger Berichterstattung passen sich unserem digitalen Zeitalter, temporeichem Konsumverhalten und unseren verkürzten Aufmerksamkeitsspannen an: Teaser-Posts im Look kompakter, ästhetisierter Info-Slides mit Auszügen aus Artikeln und journalistischen Kommentaren; kurze Videos mit Untertiteln, in denen Aktivist*innen, Journalist*innen, Politiker*innen oder fachliche Expert*innen komplexe politische Zusammenhänge zugänglich aufbereiten, aktuelle Geschehnisse sowie viral gegangene Aussagen kritisch einordnen und kontextualisieren; Formate, in denen Menschen aus Betroffenenperspektive ihre eigenen Geschichten erzählen.

Selbst öffentlich-rechtliche Sender wie der ORF bekommen für die Produktion eigener Formate im Internet langsam mehr Handlungsspielraum – siehe Topos, »Zeit im Bild«-Tiktok oder die neue »Young Audience«-Schiene. Welche Perspektiven in Zukunft auf diesen großen Kanälen Sendezeit kriegen, wird sich zeigen.

Die Alltäglichkeit, in die soziale Plattformen gerade bei jüngeren Generationen eingebettet sind, bietet jedenfalls die Chance, kontinuierlich auf neuen Content von unterschiedlichsten Produzent*innen zu stoßen. Denn trotz Zensur und Monitoring der Inhalte durch privatwirtschaftliche Tech-Konzerne ist eine grundlegende Vielfalt an Perspektiven in den sozialen Medien immer schon angelegt: Die Plattformen leben davon, dass wir alle ständig Inhalte für sie produzieren – egal ob Texte, Bilder, Videos oder Musik. Schlussendlich haben sie weder ein Interesse noch die Möglichkeit, diese Flut an Content völlig einzudämmen.

Soziale Medien sollten selbstverständlich nie unsere einzige politische Informationsquelle sein, sondern idealerweise eine von vielen. Wir können ihre Vorteile aber stärker nutzen und verantwortungsbewusster mit ihnen umgehen. Der für Social Media so charakteristische Austausch geht weit über Kommentarspalten, Story-Posts an die eigene Follower*innenschaft oder virale Trends hinaus. Denn über geteilte Inhalte wird sich auch in der Realität ausgetauscht.

Dieser Rückkanal ist zwar nicht immer positiv, gerade deshalb gibt es aber immer mehr Initiativen, wie das Schweizer Projekt »Stop Hate Speech«, die zugänglich vermitteln, wie gegen Hassrede in Kommentarspalten und Shitstorms vorgegangen werden kann. In Form produktiver Gegenrede, die zu einem konkreten Thema alternative Positionen aufzeigt, was nachweislich beeinflusst, wie der öffentliche Diskurs wahrgenommen wird. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Tanja Maier schreibt, dass Sichtbarkeit eng mit der Gestaltung von politischen Öffentlichkeiten verknüpft sei. Laut ihr ist die Aufgabe politischer Bildung eine Form der Selbstermächtigung, ein »Community-Management«, eine »Befähigung der Lernenden, sich eigenständig zu organisieren«.

Collective Take-over

Technologische Innovationen bergen immer auch Gefahren. Social Media sind zu einer Parallelrealität geworden, in der Appelle an die Menschlichkeit entmenschlichenden Darstellungen direkt gegenüberstehen. Eine kritische Beschäftigung mit der Einflussnahme sozialer Medien auf unsere Politik und Psyche sollte daher unbedingt stattfinden, aber nicht ihre Politisierungspotenziale verteufeln oder verleugnen. Besonders wenn es um die Dokumentation und das Aufdecken von Menschenrechtsverletzungen geht, ermöglichen soziale Medien eine nicht zu unterschätzende Form von Teilhabe. In einer Zeit, in der sich politische Ereignisse in einem solchen Tempo überschlagen, dass niemand mehr hinterherkommt, sind zugängliche und flächendeckende Formen politischer Bildung durch uns alle und mit uns allen unverzichtbar. Sich nicht zu informieren, ist keine Option, sonst wird unsere Zukunft gewaltvoll ohne uns gestaltet. Wir dürfen an der Komplexität und den Widersprüchlichkeiten unserer politischen Realität nicht scheitern. Wir müssen uns mit ihr beschäftigen und sie verständlich machen, statt so zu tun, als gäbe es sie nicht. Es braucht eine flächendeckende, multiperspektivische und zugängliche Aufbereitung von Informationszusammenhängen – auf öffentlich-rechtlichen Kanälen, in deren Social-Media-Zweigen wie auch durch unabhängigen Journalismus; für Menschen mit unterschiedlichsten Backgrounds und Bildungsständen. Damit wir inmitten all dieser Gefahren nicht vermeintlich einfachen Erklärungen und faschistoiden Versprechen verfallen, sondern handlungsfähig bleiben.

Und gerade weil alles so undurchsichtig und komplex ist, müssen wir zusammen kritisch denken, Narrative hinterfragen und Gegenerzählungen und alternative Antworten auf Propaganda und Desinformation liefern. Tanja Maier beschreibt wie gerade bildlastige soziale Medien genutzt werden können, »um nicht nur politische Informationen zu vermitteln, sondern auch, um Affekte zu wecken, Verbundenheit herzustellen und die Öffentlichkeit zur Partizipation einzuladen«. Dieser solidarische Austausch, der Leute direkt und emotional anspricht, habe das Potenzial, eine Praxis des Widerstands zu sein und Einfluss auf eine Veränderung der Verhältnisse zu nehmen. Nicht durch performativen Aktivismus durch Story-Posts auf Instagram, sondern hoffentlich als ein Aspekt eines längerfristigen solidarischen Miteinanders, das populistischen Kräften keinen Teil unserer Öffentlichkeiten einfach so überlässt.

Denn wenn wir uns gemeinschaftlich organisieren und lernen uns aktiv in die Gestaltung unserer politischen Realität einzumischen, dann sind wir nicht mehr in der Hypernormalisierung gefangen. Dann erscheint uns die außergewöhnliche, surreale Situation, in der wir leben, nicht mehr normal, nicht mehr unveränderlich. Dann erkennen wir die Fake World, die uns vorgegaukelt wird, als jenes fadenscheinige Konstrukt, das sie ist. Dann sind wir nicht mehr in der endlosen Spirale des Doomscrollings gefangen, sondern können aktiv beginnen, unsere Welt – die digitale wie die physische – mitzugestalten.      Alexandra Isabel Reis

Informationen zu Tanja Maiers Publikationen finden sich auf www.tanjamaier.net. Rahaf Harfoush veröffentlicht regelmäßig neue Videos auf ihrem Instagram-Account @foushy.

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