Wie ein Comic unsere Geschichte neu zeichnet – »Die Frau als Mensch« von Ulli Lust

Mit ihrem aktuellen Buch überblickt die Comiczeichnerin Ulli Lust Zehntausende Jahre menschlicher, kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung – und rückt Frauen ins Zentrum der Erzählung.

© Ulli Lust »Die Frau als Mensch« (Bild: Ulli Lust / Reprodukt)

Statt um namhafte Protagonist*innen der Weltgeschichte dreht sich »Die Frau als Mensch« von Ulli Lust um ein sonst wenig beleuchtetes Thema: die Rolle der Frau in der Eiszeit. Dabei liest sie prähistorische Spuren auf ihre Weise und hinterfragt dominante Geschichtsschreibung. The Gap hat die Künstlerin zu ihrem Mammutprojekt (pun intended) interviewt.

Dein Buch denkt darüber nach, was Bilder einer Gesellschaft über ihre psychische Verfasstheit verraten. Du wirst darin zur Bildforscherin. Seit wann stellst du dir diese Frage und warum?

Ulli Lust: Das mache ich schon lange. Wenn einem einmal aufgefallen ist, dass wir von Männerbildern umzingelt sind – man muss nur in eine katholische Kirche gehen –, kommt man davon nicht mehr los. Im Kunstschatz aus der Eiszeit zeigten Menschendarstellungen dagegen über 28.000 Jahre lang zu 70 Prozent Frauen. Was war die Voraussetzung für diese souveränen und in sich ruhend wirkenden Frauenfiguren? Wie lebten die Menschen damals zusammen, um diese Kunst zu schaffen? Meine These ist, dass nur eine friedliche, egalitäre Kultur so selbstverständlich Frauenstatuetten produzieren kann.

Was könnte das denn angesichts der weltpolitischen Lage für die Gegenwartskunst bedeuten?

Ich bin nicht wahnsinnig optimistisch, aber es ist auch gut zu wissen – das führe ich im Buch aus –, dass wir qua Geburt eine starke soziale Komponente haben. Weil der Mensch ein riesiges Gehirn hat, müssen Menschenbabys auf die Welt kommen, bevor sie fertig entwickelt sind. Tiere werden geboren und können laufen, Menschen liegen erst einmal ewig rum, können nichts und müssen alles voneinander lernen. Das widerlegt den Mythos vom Menschenwolf, von unserer Urwüchsigkeit und Triebhaftigkeit, die gewalttätig und egozentrisch ist.

Comickünstlerin Ulli Lust (Bild: Barbara Dietl)

Dieses Mammutprojekt überblickt Jahrtausende, aus denen es keinen Text und kaum Bilder gibt. Wie packt man so etwas ausgerechnet in einen Comic?

Ich wollte dem Klischee widersprechen, dass Frauen eher klein-klein machen, und ich wusste, was ich erzählen möchte: Es gab Neujustierungen in der archäologischen Forschung, die ich zusammenfassen und chronologisch aufdröseln wollte. Während des Zeichnens habe ich viel über die Lebensweise dieser Menschen gelernt. Plötzlich konnte ich mich in diese Gesellschaften besser einfühlen. Sie waren keine abstrakte, primitive Masse mehr, die sehr alt ist und lange Zeit unverändert geblieben ist.

Wie kamst du zu deinem Material?

Vieles habe ich von Researchgate. Wenn möglich, habe ich mir Originale in Museen angeschaut, weil diese in Wirklichkeit oft kleiner sind, als sie auf Fotos aussehen. Landschaften musste ich mir im Kopf zusammensetzen: Ich recherchierte Bilder aus Sibirien, Skandinavien, Alaska – eiskalten Gegenden eben – und orientierte mich auch an Landschaften mit wenig Bäumen, aber einem diversen Pflanzenbestand, wie zum Beispiel modernen Alpenwiesen. Während eines Forschungssemesters konnte ich mich in Südfrankreich mit dem Kolorieren beschäftigen. Ich studierte die Ockerfelsen dort, weil Rot und Ocker zentral waren für das eiszeitliche Alltagsleben. Man findet seit mindestens 70.000 Jahren Reste von menschengemachter roter Farbe. Das Rot, das die Leute in der Eiszeit gesehen haben, ist allerdings, wenn wir es mit einem Kirschrot aus dem Malkasten vergleichen, eher ein Braun. Die Aufgabe war, sich einzufühlen in eine Farbwelt, in der es keine künstlichen Farben gibt.

Diese Art der künstlerischen Forschung überzeugt. Ist das Medium Comic vielleicht sogar besonders geeignet für deine Arbeit?

Ich hatte den Vorteil, dass ich damit vergangene Szenarios wieder auferstehen lassen konnte – und zwar günstiger als jeder Film. Außerdem war es hilfreich, Text und Bild parallel zu führen. Normalerweise muss man sich Bilder in Textbüchern immer mühsam vorstellen. Im künstlerischen Tun ergaben sich auch neue Erkenntnisse, das hatte etwas mit Instinkt zu tun. Ich denke, unsere Vorfahren haben das genauso empfunden. Die haben Dinge gesehen und verstanden, dass diese auch als Gleichnis für etwas anderes, Größeres dienen. Unsere Fähigkeit zum symbolischen Denken wird in Comics stimuliert. Sie liefern einerseits ein Szenario, etwas, das man als Welt entziffern kann. Und andererseits auch etwas, das wir symbolisch lesen, instinktiv.

Was hast du beim Nachzeichnen der ältesten Bilder der Menschheit gelernt?

Es ist faszinierend, diese selbst nachzufahren. Kleine Details bemerkt man erst, wenn man sie zeichnen muss. Ich glaube zum Beispiel, dass die Frauenfiguren von Frauen gemacht wurden, vielleicht sogar Selbstporträts waren. Wenn ich selbst etwa erotische Comics zeichne, zeichne ich auch lieber die Frau als den Mann. Und wenn Männer diese Figuren gemacht hätten, hätten sie sie häufiger mit gespreizten Beinen gezeigt, denke ich.

Im Comic kommentierst du die verschiedenen Funde und Beobachtungen nicht. Vereinzelt kommst du aber als Figur vor. Welche Funktion hat es, dass wir dich sehen, wie du Forscherinnen über prähistorische Menstruation befragst?

Es ist wichtig, dass klar ist, wer aus welcher Perspektive erzählt. Ich bin weiblich, ich bin weiß, ich wurde in einer patriarchalen Gesellschaft sozialisiert. Ab und zu mache ich ein paar Scherze, bringe eine gewisse Leichtigkeit hinein. Aber letzten Endes geht es nicht um mich. Es gibt Comicbücher, in denen ein Erzähler als Figur auftritt, Dinge erklärt und mit einem Zeigestab visualisiert. Das wäre mir zu verschult.

In »Die Frau als Mensch« stecken Jahre voller Recherchen, Skizzen und Feldversuche. (Bild: Ulli Lust)

Bereits der Titel deutet an, was du im Buch eindrücklich zeigst: Die Setzung des Männlichen als Norm ist eine neuzeitliche Erfindung. Ist dein Buch ein feministisches Projekt – auch wenn das Wort nie darin vorkommt?

Ich halte es für ein humanitäres Projekt. Natürlich erzähle ich aus einer weiblichen Perspektive, aus der Fassungslosigkeit heraus, wie man Geschichte bislang interpretiert hat. Es gab etwa auch geschlechtsfluide Menschen in der Eiszeit – das hat man lange nicht richtig gelesen. Aber eigentlich geht es mir um die Darstellung egalitärer Gesellschaftssysteme und um das Ausbalancieren eines Übergewichts, einer männlichen Omnipotenz.

Damit musst du immer noch gegen mächtige Dogmen der Wissenschaft anschreiben.

Mein Glück ist, bereits Teil der nächsten Generation zu sein. Die Archäologin Marija Gimbutas wurde massiv angegriffen, weil es undenkbar war, dass Frauen eine nicht völlig untergeordnete Rolle in jeglicher Frühgesellschaft gehabt haben könnten. Sie und andere Forscherinnen wurden als naive Feministinnen und Fantastinnen dargestellt. Ich habe versucht, diesen Diskurs gar nicht zu führen. Es interessiert mich eigentlich nicht, ob mir jemand glaubt oder nicht. Außerdem bin ich sowieso eine Laienforscherin, komme aus der Kunst und kann meine Expertise über meine künstlerische Form einbringen.

Das Projekt ist »to be continued« – was kannst beziehungsweise möchtest du über Fortsetzungen verraten?

Während sich Teil eins mit Biologie und Evolution beschäftigt, geht es in Teil zwei um Mythologie und orale Literatur. Zum Glück bin ich bereits mit dem zweiten Teil fertig. Das heißt: Ich kann jetzt ganz cool und relaxed Interviews geben, weil ich schon weiß, wie es ausgeht.

»Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte« von Ulli Lust erscheint am 12. Februar 2025 bei Reprodukt.

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