Wunderschöne Hymne, trauriges Requiem und perfekte Parabel: Benh Zeitlins Debütfilm »Beasts Of The Southern Wild« ist eine beeindruckende und bewegende Ode an die Kindheit. Der Film begleitet ein kleines Mädchen aus New Orleans durch den Hurrikan Katrina und erzählt von ihrem Kampf gegen die Krankheit ihres Vaters, die Angst vor der Zukunft und prähistorische Monster.
Der im Mai diesen Jahres verstorbene Maurice Sendak war kein Mann der vielen Worte. Sein wichtigstes Werk ist nur knapp 20 Sätze lang. Und doch ist »Wo die wilden Kerle wohnen« ein unerreichtes Meisterwerk. Kraftvoll, wunderschön, todtraurig. Und das Beste an der illustrierten Geschichte rund um den Jungen Max, der vor der Autorität seiner Eltern auf eine Insel voller letztlich freundlicher Monster flieht: Sie ist frei von jeder Ironie. Auch Benh Zeitlins Debütfilm »Beasts Of The Southern Wild«, der im Jänner bereits auf dem kanadischen Sundance Festival stürmisch gefeiert wurde, ist kein ironisches Werk. Die nervige Doppelbödigkeit eines »Shrek« fehlt dem Streifen völlig. »Beasts Of The Southern Wild« unterhält Erwachsene nicht mit »Matrix«-Anspielungen oder Analogien zu Prominenten. Stattdessen lässt er sich völlig auf seine kleine Heldin ein und erzählt die Geschichte aus ihren Augen: Hushpuppy und wie sie Welt sah.
Die sechsjährige Protagonistin von »Beasts Of The Southern Wild« lebt mit ihrem Vater Wink, einem Schwein und einem dürren Hund in einer Swamp-Siedlung vor den Toren New Orleans, genannt »The Bathtub«. Ihr Kindheitsbiotop besteht aus Schmutz, Armut und Trailern. Wink pflegt eine liebevolle, aber raue Erziehung zu seiner Tochter, die Hushpuppy auf den Tag vorbereiten soll, an dem er nicht mehr da ist, um sie zu beschützen. Und doch gibt es auch viel Magie und Freude in ihrem Leben. Hushpuppy hört die Herzen ihrer Mitmenschen und Tiere um sich herum schlagen und mit ihr reden. Außerdem haben die Bewohner von Bathtub wenig, teilen dies aber bereitwillig. Die Szenen, wie sie ihre ärmliche Existenz mit einem Festzug durch die Siedlung und anschließendem Feuerwerk feiern, gehören zur eindrucksvollsten Darstellung von Unterschichten-Stolz seit Langem.
Wie viele Kinder hat auch Hushpuppy einen imaginären Fluchtpunkt, der ihr hilft, die Ängste und Entbehrungen zu verarbeiten. Dieser Punkt ist ihre Mutter, die nach ihrer Geburt davonlief. Das Mädchen steht auf dem Dach ihres Trailers und ruft nach ihr, wann immer die reale Misere zu viel wird. Hushpuppy lebt in einem kleinen, geordneten Universum, in dem nichts verschwendet und alles repariert wird. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Der Hurrikan Katrina setzt die Siedlung unter Wasser, und Hushpuppys Vater erkrankt schwer. Die Welt, die sie kennt, gerät gewaltig aus den Fugen. Und sie muss lernen, dass manche Dinge zu kaputt sind, um sie zu reparieren. Zu allem Überfluss hat Hushpuppy auch noch Visionen von prähistorischen Monstern, die aus ihrem Schlaf am Südpol erwachen und sich auf den Weg zu ihr machen. Die kleine, tapfere Bewohnerin des Bathubs macht sich auf die Suche nach der einzigen Person, von der sie glaubt, Hilfe erwarten zu können: ihrer Mutter.
Die Monster, die ich rief
»Beasts Of The Southern Wild« ist ein bewegender, vielschichtiger Film. Märchen, Heldengeschichte und Drama. Wie bei einem mehrfach belichteten Foto legt Regisseur Zeitlin fantastische und reale Erzählebenen übereinander, von denen man letztlich nie ganz weiß, ob sie sich wirklich berühren. Das Verstörendste in »Beasts Of The Southern Wild« sind riesige, grausame Auerochsen. Die prähistorischen Monster wirken inmitten der Dammbrüche und Zwangsevakuierungen im Post-Katrina-New Orleans zwar wie Fremdkörper, aber dieses narrative Element ist nicht losgelöst von seiner Perspektive zu betrachten. »Beasts Of The Southern Wild« wird vielleicht nicht für, aber von Kindern erzählt.
Schon immer wurden Bedrohungen in Märchen, Kinder- und Volksgeschichten personalisiert, dadurch gebrochen und zugänglich gemacht. Der charmante Wolf in Rotkäppchen warnt den Zuhörer eben nicht vor der Gefahr durch Wölfe, sondern der deutlich realeren Gefahr durch männliche Sexualität und Vergewaltigung. »Hänsel und Gretel« entstand vermutlich in der Zeit des 30-jährigen Kriegs, als die entvölkerten Landstriche von Hungersnöten geplagt wurden und die Menschen vielerorts bereit waren, das Tabu des Kannibalismus zu brechen. Der Kinderfresser im Film »Pan’s Labyrinth« symbolisiert die Schrecken des spanischen Bürgerkriegs. Manche Dinge sind zu schlimm, um sie direkt zu betrachten. Da kann es helfen, sie zu einem irrealen Ungeheuer zu machen.
Auch die Monster in Sendaks Buch und Zeitlins Film sind nicht zufällig da. Sie symbolisieren die Ängste und Wünsche ihrer kleinen Protagonisten. Max versteht nicht, warum er seine destruktiven Gefühle beherrschen sollte. Die wilden Kerle sind das, was Max gerne sein will: sie leben ohne Regeln und ohne Zügel. Bei Hushpuppy sind die Monster eher die Dämonen einer Zukunft, die sie nicht versteht. Sie weiß, dass sich die Dinge verändern werden und fürchtet sich davor. Sie hat Angst vor dem Unbekannten und der Möglichkeit, dass sie vielleicht zu schwach für künftige Bedrohungen sein könnte. Das Ganze geschieht auch deshalb, weil man ihr die Dinge nicht erklärt. Jedesmal, wenn sie Wink auf seine Krankheit anspricht, bekommt sie nur zu hören, dass sie das nicht verstehen würde.
Der Preis des Erwachsenwerdens
Quvenzhané Wallis, die Darstellerin von Hushpuppy, ist ein Glücksgriff. Eine kraftvolle, kindliche Urgewalt. Und das ist auch der Schlüssel, als das Gemeinsame in den Protagonisten von Sendak und Zeitlin zu sehen. Max und Hushpuppy sind roh, naiv, gewalttätig, liebesbedürftig, böse, neugierig und verletzlich. Sie durchleben das gesamte Gefühlsspektrum. Kurzum: Sie sind Kinder. Und Kindheit ist nun mal magisch und erschreckend zugleich. Und Kinder bewegen sich nicht im Moralsystem der Erwachsenen um sie herum. Max und Hushpuppy sind wütend, wild, werfen mit Dingen herum und zerstören ihre Besitztümer, um die aus ihrer Sicht ungerechten Eltern zu bestrafen. Sie kommen aus unterschiedlichen Situationen: Das behütete Eigenheim auf der einen, die schmutzige Trailerpark-Siedlung auf der anderen Seite. Und doch benehmen sie sich ähnlich. Ihre Gefühle sind universell, und damit auch die erzählten Geschichten. »Wo die wilden Kerle wohnen« und »Beasts Of The Southern Wild« sind allgemeingültige, perfekte Parabeln auf die Kindheit. Am Endpunkt beider Parabeln steht eine so traurige wie zentrale Wahrheit des Erwachsenwerdens: Träume halten unseren Erwartungen meist nicht stand. Aber eben auch die Erkenntnis, dass die Realität bewältigbar und voller Liebe ist, wenn man sich ihr stellt.
Das macht beide Geschichten so besonders. Sie sind ein jeweils eine wunderschöne Hymne auf und gleichzeitig auch trauriges Requiem für die Kindheit. Denn am Ende der Geschichten sind Max und Hushpuppy ein Stück erwachsener. Sie begreifen, dass man sich seinen ungezügelten, animalischen Monstern stellen muss und sie nur so besiegen kann. Aber mit jedem Monster verschwindet eben auch ein Stück Magie aus dem Leben – das ist der Preis des Erwachsenwerdens. Doch beide Kinder werden am Ende auch belohnt. Max erkennt die bedingungslose Liebe seiner Mutter. Und Hushpuppy, die in einer unwirtlichen Welt aufwuchs und immer zur Stärke erzogen wurde, darf am Ende schwach sein. Die Heldin erlaubt sich, zu weinen.
Letztlich bleibt nur noch die Frage, warum die Geschichten auch Erwachsene tief im Herzen packen. Weil sie uns in eine Welt entführen, die uns nicht mehr offensteht. Das bewegt uns, muss uns aber nicht traurig machen. Denn wir haben gegenüber Hushpuppy und Max einen Informationsvorsprung. Wir wissen ganz genau: Das Ende der Kindheit mag das Ende der Magie sein. Aber ganz sicher nicht der Abenteuer.
»Beasts Of The Southern Wild« ist ab dem 21.12 in den österreichischen Kinos zu sehen.