Wortwechsel: Wie politisch muss Theater sein?

Milo Rau, Veronika Steinböck, Theresa Eisele und Simon Meusburger schildern, welche Rolle Poltitik ihrer Meinung nach am Theater spielt.

© Julie Dadsétan / Apollonia Theresa Bitzan / Marc Driessen / Sara Vorwalder

Seit seinen Anfängen befindet sich Theater stets an der Grenze zwischen Unterhaltung und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Immer wieder wurden dort tagespolitische Themen der Zeit aufgegriffen und öffentlich verhandelt. Gleichzeitig bietet die Bühne aber auch die Möglichkeit, einen Freiraum abseits der alltäglichen Probleme und Diskurse zu schaffen. Welche Rolle soll Theater in der heutigen Gesellschaft einnehmen? Wie sehr muss sich Theater in politische Diskurse einmischen? Wen und was kann Theater bewegen? Darf Theater auch pure Unterhaltung sein?

Milo Rau

Intendant Wiener Festwochen

Milo Rau (Bild: Marc Driessen)

Theater mit Kante

Meine Stücke werden regelmäßig gerichtlich oder per Kampagne verfolgt – und das in Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Taiwan, den USA, Brasilien, Russland oder Belgien. Die Argumente sind immer politisch, nämlich die Gesellschaft betreffend: Die Gefühle dieser oder jener Bevölkerungsanteile würden verletzt – wobei diese weder involviert oder auch nur informiert werden. In Paris etwa lancierte ein rechts-katholischer Minister eine Petition gegen eine meiner Aufführungen, ein poetisches Kinderstück zum Thema Missbrauch. 10.000 »beunruhigte Katholik*innen« unterschrieben den Brief, der in einigen Medien erschien. Am Abend der Premiere gab es einen Aufmarsch vor dem Theater, es wurden Farbbeutel geschmissen, das Publikum kam kaum in den Saal. Die Aufführung entkräftete jedoch alle Vorwürfe – die Poesie, der Humor, die Freiheit der Kinderdarsteller*innen. Ähnlich erging es den Putin-treuen Kosaken, die meine Aufführung der »Moskauer Prozesse« in Moskau stürmten. Sie wollten uns verprügeln, setzten sich dann aber verwirrt in die Zuschauer*innenreihen, als sie auf der Bühne orthodoxe Priester und ihren Lieblings-TV-Moderator mit Dissident*innen debattieren sahen.

Was ich damit sagen will: Theater »muss« nicht politisch sein, politisch ist es sowieso. Manchmal – wie aktuell in der Slowakei, wo der Leiter des Nationaltheaters entlassen wurde – muss Kunst zur Waffe werden, die die eigene Freiheit verteidigt. Der Appell des Ensembles der »Burgtheater«-Produktion, der sich gegen das nationalistische, kunstfeindliche Wahlprogramm der FPÖ richtet, ist ein zivilgesellschaftlicher Hilfeschrei. Denn die Kunst muss frei, sprich komplex bleiben – divers und unangenehm, strahlend und verwirrend wie die Wirklichkeit selbst. Blasmusik und queere Performances, Tschechow und Florentina Holzingers Nacktperformances, das alles ist Theater. Denn Theater hat, wie alle Kunst, nie eine klare »Aussage«, es ist immer vieldeutig.

Das politische Theater, das ich meine, zeigt klare Kante – und zwar gerade indem es sich zwischen alle Fronten begibt und grundlegende Fragen zu unserem Zusammenleben, unseren Glaubenssätzen, zur Darstellung der Welt stellt. Es ist ein Statement, im heutigen Moskau zu inszenieren – ein anderes ist es, das in Israel, Italien, Brasilien oder Österreich zu tun. Es ist zutiefst politisch, als Mensch auf eine Bühne zu treten. Denn es gibt immer eine politische oder gesellschaftliche Situation, auf die man reagiert, allein schon durch die Zuschauer*innen, die ihre eigenen Ansichten, Hoffnungen, Traumata auf die Darsteller*innen projizieren. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion vor einigen Jahren: Ich kritisierte das öde europäische Klassikerkaraoke, das ewige, kunstgewerblich aktualisierte Abspielen des immer gleichen Kanons. Eine Künstlerin aus dem Iran unterbrach mich und sagte: »Tschechow in Teheran zu spielen, ist eine Revolution, es bedeutet Freiheit! Nichts gegen Tschechow, bitte!« Und sie hatte recht.

Milo Rau ist Regisseur, Autor und Dozent. Seit 1. Juli 2023 leitet er die Wiener Festwochen als Intendant.


Veronika Steinböck

Künstlerische Leitung Kosmos Theater

Veronika Steinböck (Bild: Apollonia Theresa Bitzan)

Keine Unterscheidung in E und U

»Man muss keine politischen Filme machen, sondern Filme politisch machen«, zitiere ich gern den Kinopionier Jean-Luc Godard und übertrage das auf das Theater.

Politisch Theater zu machen, beginnt bereits bei der innerbetrieblichen Struktur. Wie schaffen wir für Künstler*innen und Mitarbeiter*innen ein Arbeitsklima, das von Fairness getragen wird? Wie gestalten wir ein diskriminierungsfreies und wertschätzendes Umfeld? Wem wird die Bühne gegeben, um zu sprechen? Welche Sprache benutzen wir? Was ist das für ein Ort, der nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch seine Umgangsformen, seinen Blick auf die Welt und durch seine Haltung zur Welt politisch wird?

Diese Fragen – und noch viele mehr – sind für mich das Fundament eines zeitgemäßen Theaters, dessen Türen ich weit öffnen will für ein Publikum, das sich versammelt, um gemeinsam Kunst zu erleben, um sich anregen oder irritieren zu lassen, um zu lachen oder weinen, um sich als Teil der Gesellschaft über diese selbst zu verständigen.

Theater ist Kunst und »muss« gar nichts sein. Es darf poetisch sein, versponnen und verspielt, es darf sich auch konkret dem Alltag zuwenden. Es darf sich einmischen in das Leben, in die Politik – nicht als Wiedergabe oder Verdoppelung tagespolitischer Diskursmotive, sondern als Unterbrechung des Politischen. Es darf hinterfragen, aufmerksam machen und Utopien in den Raum stellen. Theater ist immer heute und hat stets Bezug zu seiner Gegenwart. Die unmittelbar wahrgenommene ästhetische Handlung ist das Alleinstellungsmerkmal des Theaters, nicht die politische.

Einer Unterscheidung in E und U – wie dem Versuch, Musik in ernste und Unterhaltungsmusik zu klassifizieren – verwehre ich mich. Ohne E ist U flach und ohne U ist E fad. Wie Kunst wahrgenommen wird, lässt sich nicht bestimmen. Ob ich Wein lieber als schweren, teuren Rotwein oder als leichten Sommerspritzer genieße, ist genauso individuell, wie, ob ich an einem Abend das Bedürfnis habe, mich heraus- und überfordern zu lassen, oder an einem anderen Abend Sehnsucht nach Ablenkung. Beides ein legitimes Bedürfnis, im besten Fall gelingt an einem Theaterabend sogar beides gemeinsam.

Veronika Steinböck ist Schauspielerin, Regisseurin, Kuratorin. Seit 2018 ist sie künstlerische Leiterin des Kosmos Theaters.


Theresa Eisele

Theaterwissenschaftlerin

Theresa Eisele (Bild: Sara Vorwalder)

Politiken des Theaterapparats

Theater – nicht nur als bürgerliches Kunstinstitut verstanden, sondern als soziale und kulturelle Praxis – lässt sich zunächst nicht vorschreiben, ob es Politik muss oder Unterhaltung darf. Es begegnet uns als eigenmächtige Situation, spontane Szene oder Versammlung. Theater ist da, wo etwas oder jemand aus den schnöden Alltagsroutinen heraustritt, etwas zur Schau stellt, verwandelt oder zeigt. Das kann Spaß machen, überraschend, sogar transformativ und vor allem politisch sein: Die postkoloniale Sapeur-Bewegung oder die Letzte Generation sind Beispiele dafür.

Abseits politischer Inhalte, die mit Theater verhandelt werden, interessiere ich mich besonders für die Politik des Phänomens und Apparats selbst: Wer blickt auf wen? Wer spricht, singt, tanzt – für wen und in welchem Setting? Kostet das Eintritt? Wie viel? Denn jeder Aufführung gehen Entscheidungen voraus, die explizit getroffen oder stillschweigend vollzogen werden. Hierin liegt der immanent politische Gehalt von Theater, der sich bis in die Aufführung hinein fortsetzt: Stimme ich zu? Bringe ich mich ein?

Umgekehrt ist das Verhältnis von Politik zu Theater ambivalent: Platon sieht in der Theatrokratie die Herrschaft einer anarchischen Masse verwirklicht, der er keine politische Vernunft zugesteht. Die Sozialutopien der Renaissance beschäftigen sich mit der Frage, ob ein Staat ohne Theater zu machen sei – unter uns: Wie fad wäre das? Hingegen ist das deutschsprachige Stadt- und Staatstheatersystem der Idee verpflichtet, mit Theater einen Staat bzw. wenigstens Staatsbürger*innen zu machen, diese nämlich zu politischer Urteilskraft zu befähigen. Politische Kritik legitimiert hier also die Institution, wenngleich die impliziten Politiken der bürgerlichen Institution selbst oft ausgeblendet sind.

Und so wird’s nun doch noch normativ: Müssen sich Menschen und Institutionen, die Inszenierungen verantworten, diesen impliziten und expliziten Politiken und den – gerade aktuell wieder patriarchalen – Machtverhältnissen von Theater stellen? Ja, unbedingt!

Theresa Eisele ist Theaterwissenschaftlerin an der Universität Wien. Mit einem kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt beforscht sie auch theatrale Phänomene abseits eines bürgerlichen Theaterbegriffs.


Simon Meusburger

Direktor Schubert Theater

Simon Meusburger (Bild: Julie Dadsétan)

Die Bühne als neutraler Raum

Theater darf und muss alles sein! Wenn wir davon ausgehen, dass Theater der Ursprung aller Künste ist, wie es Darstellungen von steinzeitlichen Höhlenmalereien vermuten lassen, stellt sich aus meiner Sicht die Frage gar nicht, wie politisch Theater sein darf. Theater setzt sich immer mit gesellschaftsrelevanten Themen auseinander. Ob Boulevardstück, klassisches Sprechtheater oder performative Experimentalformen – sie alle sind von sich aus politisch, indem sie Themen des Menschseins behandeln. Wie tief und in welcher Form sich Theater mit Politik auseinandersetzt, bestimmen wir selbst. Das Publikum genauso, wie die Akteur*innen und alle Beteiligten. Ob tagespolitische Themen oder abstrakte jahrhundertealte Thematiken – welche Denkanstöße Theater für welches Publikum verhandeln soll, bleibt in der Verantwortung der Macher*innen.

Die Grenze zwischen politischem Diskurs und einem unterhaltsamen Theaterabend kann dabei sehr verschwommen sein. Aus der Perspektive des Figurentheaters hat der politische Aspekt eine spezielle Geschichte. Eine Puppe hat in ihrer Abstraktion schon eine eigene Kommentarebene. Eine Puppe kann, muss aber nicht, wunderbare politische Kommentare abgeben, dabei unterhaltsam sein und getrennt von den eigentlichen Spieler*innen fast neutral und doch subjektiv frei nach Schnauze sprechen. Ganz in der Tradition von ursprünglichen Kasperltheateraufführungen, die auf äußerst direkte Art und Weise Kritik an der jeweiligen politischen Elite aus der Sicht des gemeinen Volkes artikulieren durften.

Soll Theater also gar Politik machen? Ich glaube nicht. Auch wenn manche Theaterperformances damit spielen, echte politische Entscheidungen zu verhandeln, liegt die tatsächliche Verantwortung natürlich in der Politik. Wir machen im Theater keine Gesetze, und das ist gut so. Die Bühne soll ein neutraler Raum für alle bleiben und darf auch mal gänzlich unpolitisch, absurd und völlig frei von rationalem Denken sein. Das ist gerade die Stärke des Theaters, aus seiner mystischen, sakralen Tradition ganz andere Zusammenhänge und Denkweisen aufzutun, eben diese Magie mit dem Ratio­nalen zu verbinden und damit immer wieder etwas ganz Neues hervorzubringen. Etwas, das die Politik nicht kann – und das damit wiederum gesellschaftlich hoch relevant und eben politisch ist. Selbst wenn Theater nicht immer politisch sein will.

Regisseur Simon Meusburger ist seit 2007 Direktor des Schubert Theaters in Wien.

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