Wo endet die Pflichterfüllung und wo beginnt die individuelle Verantwortung? In Sachen deutsche Nachkriegsliteratur kommt man nicht um Siegfried Lenz‘ Roman »Deutschstunde« aus dem Jahr 1968 herum. Der deutsche Regisseur Christian Schwochow überträgt die Geschichte nun mit Tobias Moretti und Ulrich Noethen auf die große Leinwand.
Zu einer Zeit, als Deutschland nicht mehr verdrängen und sich stattdessen aktiv mit der Schuldfrage des Nationalsozialismus auseinandersetzen wollte, stellte Siegfried Lenz‘ Roman »Deutschstunde« eine der zentralen Fragen zur Aufarbeitung. Das Ineinanderfließen von Schuld und Pflicht illustrierte er am Beispiel eines Jungen, der entscheiden muss, ob er einen illegal arbeitenden Maler an seinen unter dem Naziregime dienenden Vater ausliefert. Christian Schwochow versucht seiner Adaption in Zeiten des wieder aufflammenden Nationalismus eine Aura von Dringlichkeit und Zeitlosigkeit zu verleihen, lässt aber an manchen Stellen Ecken und Kanten in der Geschichte vermissen.
Der besagte Junge zwischen Pflicht und Gewissen ist Siggi Jepsen (Tom Gronau), der zu Beginn des Films in der Nachkriegszeit in einer Erziehungsanstalt einsitzt. Dort wird ihm und den anderen Insassen aufgetragen, einen Aufsatz zum Thema »Die Freuden der Pflicht« zu schreiben. Siggi gibt ein leeres Heft ab und wird daraufhin als Erziehungsmaßnahme in eine leere Zelle gesperrt. Dort gibt er zu, nicht zu wenig zum Thema zu sagen zu haben, sondern eigentlich zu viel. Ein erneuter Anlauf für den Aufsatz lässt ihn gedanklich und den Film inhaltlich zurück in die späten Jahre des Nationalsozialismus wandern.
Dort erhält sein Vater, der Dorfpolizist Jens (Noethen), den Auftrag, dem expressionistischen Maler Max Nansen (Moretti) ein Berufsverbot zu erteilen und seine »kranke Kunst« zu beschlagnahmen. Der junge Siggi (nun Levi Eisenblätter) soll ihm dabei helfen, Nansen zu überwachen, da Siggi ein gutes Verhältnis zum Maler und seiner Frau hat. Jens bemerkt, dass Max sich nicht an seine Anweisungen hält und beginnt sich immer aggressiver in den Auftrag »aus der Hauptstadt« hineinzusteigern. Max hingegen verwandelt sich in Hinblick auf seinen alten Freund und die Dorfgemeinschaft immer mehr zur Stimme der Vernunft. Siggi – hin und her gerissen zwischen der Treue zu Max und dem Wunsch dem Vater zu gefallen – muss entscheiden, ob er sich an die Erwartungen anpasst oder ein eigenes Urteil fällt.
Bedingungsloser Gehorsam auf Sparflamme
»Deutschstunde« zeigt, wie bedingungsloser Gehorsam und Pflichtbewusstsein die Menschen auf einen dunklen Pfad führen können. Gerade im Kontext von »deutschen Tugenden« sind sie ein historisches Relikt, das faschistischen und autoritären Entwicklungen die Tür öffnete. Siggis Vater ist von dieser fanatischen Pflichterfüllung getrieben, weniger von der Ideologie des Nationalsozialismus selbst. Der Film zeigt ihn, wie er Max‘ Kunst verächtlich von den Wänden nimmt und aus seinem Studio entfernt, die Ideologie dahinter spielt jedoch keine Rolle.
Schwochow konzentriert sich vor allem auf das Wechselspiel Morettis und Noethens, die zwei Seiten einer Medaille personifizieren. Das intensiviert zwar durchaus die dramatischen Momente, lässt den Film aber oft etwas unvollständig wirken. Nicht nur verkommt die Dorfgemeinschaft zu Statisten, selbst die Familienangehörigen der Jepsen werden klinisch distanziert behandelt. So ist Jens‘ Frau in der Romanvorlage eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus. Ein Umstand, der im Film nicht beleuchtet oder gar angedeutet wird. Schwochow spielt lieber mit dem genretypischen, klassischen Element des einen personifizierter Bösewichts, der die antagonistische Kraft bündelt und so leichter überwindbar macht.
Zeitlosigkeit der Moral
Ebenso lässt Schwochow die Verbindung zum Nationalsozialismus nur wage in die Handlung einfließen. Die Abzeichen und Uniformen sind da, die politische Führung und Ideologie wird jedoch nie beim Namen genannt. Verbunden mit den ruhigen Weiten des nordfriesischen Dünenlands, die Kameramann Frank Lamm in ausgiebigen Weitwinkeln einfängt, entsteht so ein zeitloser Raum, dessen Geschichte und Botschaft universell gültig wirken. Zwar spielt der Film zur Zeit des Naziregimes, doch seine Inszenierung lässt ihn auch problemlos anderswo verorten.
Diese Entscheidung raubt dem Film jedoch an manchen Ecken den Kontext, den er oft so dringend benötigen würde. »Deutschstunde« fühlt sich manchmal wie ein Vakuum an, in das man stundenlang ohne Regung hinein starrt, bevor sich dann letztendlich überraschend doch etwas am anderen Ende tut. »Denkt daran, euer Vater hat immer seine Pflicht getan«, ruft Jens seinen Kindern zu, bevor er von den Briten abtransportiert wird. Siggi wird darauf nicht reagieren. Er tut weiter das, was er zu seiner Pflicht erkoren hat. Auch wenn die eigene Moral hier bereits in Schräglage gerät. Immerhin landet er in einer Erziehungsanstalt. Und wie das Land selbst: vor den Wirren eines Neuanfangs.
»Deutschstunde« lief am Zurich Film Festival in der Sektion »Galapremieren« und ist derzeit in den österreichischen Kinos zu sehen.