In Zeiten, in denen jede/r von der unsichtbaren Hand des Marktes angehalten wird, unternehmerisch zu denken, ist der eigene Lebenslauf zu einer der meist diskutierten Kapitalanlagen geworden. Wie viel ein Bachelor, ein Diplom oder eine Ausbildung auf dem Markt wert sind, bestimmen dabei leider nicht nur wir selbst. Zahlen sich zehn unbezahlte Praktika gegenüber einem höheren Bildungstitel aus? Ist die Cum-laude-Masterarbeit oder die langjährige Berufserfahrung für den weiteren Verlauf einer Erwerbsbiografie ausschlaggebend? Und wie finden wir einen guten Job, ohne unseren CV systemkonform zu designen?
Mag.a Gabriele Srp, WIFI Wien
Motivationsschreiben richtig nutzen
Es gibt viele Berufe, die man ohne Ausbildung und Zertifizierung nicht ergreifen kann. Ich könnte noch so viel Praxis nachweisen, ohne entsprechende Ausbildung kann ich nicht als Radiologin tätig werden, ohne mich strafbar zu machen. Umgekehrt ist eine Tätigkeit als Journalistin, Redakteurin oder Kleidermacherin ganz ohne Praxis nicht vorstellbar. Bei der Beurteilung von Praktika kommt es darauf an, welcher Art die praktischen Erfahrungen sind. Welche Tätigkeiten konnte ich selbstständig übernehmen? Wofür wurde mir die Verantwortung übertragen und was habe ich dabei lernen können? Ebenso schwierig ist die Beurteilung von akademischen Titeln, Zertifikaten und Masterthesen. Deshalb ist es unumgänglich, neben dem CV ein Motivationsschreiben zu verfassen. Alle Information, die im Lebenslauf, aufgrund der besonderen Struktur und der Knappheit, nicht erwähnt werden können, aber für die Beurteilung meiner Erfahrungen und Motive wichtig sind, können hier ihren Platz finden. Im Motivationsschreiben kann ich die Gründe für meine Ausbildungs- und Berufswahl darlegen. Ich kann Erfahrungen beschreiben und bewerten und zukünftigen Arbeits- oder AuftraggeberInnen mehr zu meinen Stärken, Interessen und Neigungen präsentieren.
Im Prinzip zahlen sich Praktika immer aus. Jede Erfahrung hilft, die eigenen Vorstellungen und Präferenzen zu schärfen. Für den CV sind sie dann gut verwertbar, wenn sie die Ausbildung ergänzen, erweitern oder abrunden. Diplome und Zertifikate zeigen Bildungsinteresse und akademischen Ehrgeiz und sind in vielen Berufen unumgänglich. Einen guten Job zu finden hängt allerdings nicht immer von einem gut strukturierten Lebenslauf ab. Wichtig sind auch persönliche Kontakte und Netzwerke, Flexibilität und Offenheit, um Chancen ergreifen zu können, auch wenn sie unkonventionell sind. Und nicht zuletzt eine gute Selbsteinschätzung und -präsentation, um künftige ArbeitgeberInnen von sich überzeugen zu können.
Mag.a Gabriele Srp ist Psychologin und Bildungsberaterin und seit zwölf Jahren am WIFI Wien tätig. Ihre Schwerpunkte sind Potenzialanalyse und Bewerbungscoaching.
Gerald Bast, Universität für angewandte Kunst Wien
Komplex, kreativ und kritisch denken
Wir leben in einer Welt, die gekennzeichnet ist von Veränderung, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit. Liquid Society nennt sie der Philosoph Zygmunt Baumann. Die bereits angelaufene technologische Revolution wird unsere Art zu arbeiten und zu leben massiv beeinflussen. Innerhalb einer Generation werden bis zu 50 % der jetzt bekannten Arbeitsplätze wegbrechen. Menschliche Arbeit muss völlig neu definiert werden. Bildung wird wichtiger denn je. Doch sie wird sich dramatisch verändern müssen. Der Umgang mit komplexen Problemen, kritisches Denken und Kreativität stellen künftig die wichtigsten Kompetenzen in einer sich verändernden Berufswelt dar, wenn künstliche Intelligenz und Automatisierung in weite Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft eindringen. Fachwissen wird bis zu einem gewissen Grad – auch abhängig von der Art des Berufs – weiterhin wichtig bleiben; die Fähigkeit, Wissen fächerübergreifend und kreativ zu verknüpfen, Verbindungen herzustellen und Folgewirkungen abschätzen zu können, wird aber in allen künftigen Berufsfeldern von steigender Bedeutung sein.
Ob diese Kompetenzen durch berufliche Vorerfahrung oder durch Bildung erworben werden, hängt von der Art der ausgeübten Berufstätigkeit, bzw. von der Art der Vorbildung ab. Die Zahl der erworbenen Bildungsabschlüsse ist hierbei jedoch ebenso irrelevant wie die Anzahl und Dauer der beruflichen Erfahrungen. Die aktuellen Berufs- und Bildungsrealitäten stellen den ausreichenden Erwerb der oben beschriebenen Kompetenzen für die Berufsrealität der Zukunft ebenso wenig sicher, wie berufliche Erfahrungen im Mainstream der existierenden Berufsfelder. Viele Menschen erwerben diese Kompetenzen in untypischen Berufs- oder Bildungslaufbahnen oder durch zivilgesellschaftliches Engagement außerhalb von Studium oder Beruf.
Gerald Bast ist Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, wo neue, bisher unbekannte Studien, die Fähigkeit, Wissen fächerübergreifend und kreativ zu ver- knüpfen, im Zentrum stehen.
Corinna Gerl, Peek & Cloppenburg
Mensch als Gesamtpaket
Ein Trend geht zu berufsbegleitenden oder dualen Studien. Damit kombinieren BewerberInnen nicht nur Berufserfahrung mit theoretischem Wissen, sondern beweisen auch noch eine gute Zeiteinteilung sowie Belastbarkeit – sehr beliebt bei PersonalerInnen. Auch die Akzeptanz von Bachelorabschlüssen steigt, langwierige Ausbildungen verlieren in der schnelllebigen Zeit an Bedeutung, Wissen veraltet etwa im IT-Bereich sehr rasch.
Abschlüsse bleiben also eine gute Grundlage, um in einem Bereich Fuß zu fassen, vor allem für MaturantInnen, Studierende und AbsolventInnen, die noch am Anfang ihrer Lauf- bahn stehen. Gute Noten implizieren Lernwillen und Durchhaltevermögen, wenn die einschlägige Erfahrung vielleicht noch fehlt. Damit BerufseinsteigerInnen selbst herausfinden, in welchen Bereich sie überhaupt wollen – dafür sind Praktika ideal, die übrigens nicht unbezahlt sein müssen. Sie geben Einblicke in unterschiedliche Unternehmen und Branchen; man merkt, welche Art von Team oder Vorgesetztem man braucht bzw. welche Bedingungen, um sich wohlzufühlen und entfalten zu können. Wichtige Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Prioritätensetzung, Umgang mit Kritik, Arbeiten unter Zeitdruck etc. – das wird alles am besten on the Job gelernt.
Neben Ausbildung und relevanter Berufserfahrung zählt aber vor allem der Mensch als Gesamtpaket: Die Arbeitseinstellung, Zielorientierung und der Leistungswille entscheiden über den Erfolg; sie kompensieren manchmal gar einen fehlenden Abschluss. Wenn ein Kandidat / eine Kandidatin von seiner / ihrer Persönlichkeit her besonders gut ins Team, ins Unternehmen, zur Stelle passt und Potenzial mitbringt, können fehlendes Know-how und Erfahrung zum Beispiel durch Schulungen aufgeholt werden. Die Motivation – die kann man wiederum nur schwer ändern oder »lernen«, die muss gleich passen.
Corinna Gerl ist seit 2015 bei Peek & Cloppenburg, seit 2017 in der Unternehmenszentrale in Wien. Sie leitet dort aktuell das Recruiting & Talentmanagement der Führungskräfte und MitarbeiterInnen im Bereich Retail & Headquarters für Österreich und CEE.
Thomas Olbrich, karriere.at
Individualität und gelebte Praxis
Bildung? Praxiserfahrung? Weder das eine, noch das andere zählt – es braucht beides. Und vor allem etwas Drittes: Leidenschaft. »Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig«, sagte einst Albert Einstein. Mit ihm muss sich freilich niemand vergleichen, es schadet aber nicht, diesen Satz zu beherzigen. Als Mutmacher, das typisch Einsteinsche Augenzwinkern inklusive.
Bei aller Spezialisierung ist auch heute und gerade jetzt gültig: Die Mischung macht’s. Wie meine (Groß-)Eltern immer so schön auf typisch Österreichisch gesagt haben: »Von allem a bisserl was.« In diesem Mix lassen sich Generation Y, Z und mittlerweile Alpha nur schwer ein X für ein U vormachen, sie wissen meist ganz genau, was sie wollen, und das mit klaren Ansprüchen – an den Job, an sich selbst und an ihr (Bildungs-)Umfeld. Neben Berufspraktika gehören vor allem persönliche Erfahrungen dazu: Auslandsaufenthalte, Dinge ausprobieren, an seine Grenzen gehen, samt einer gesunden Fehlerkultur (Stichwort: Trial and Error).
Wenn’s dann ums Bewerben geht, steht eines im Fokus – eine Firmenkultur mit Sinnstiftung. Und umgekehrt die KandidatInnenkultur. Dass junge Menschen jobfit sind, egal ob sie sich nun Bachelor, Master, PhD oder ganz anders nennen dürfen, gilt als Grundvoraussetzung. Was viel mehr gefragt ist? Die menschliche Qualifikation. Sie sticht, wenn ein Unternehmen zwischen mehreren BewerberInnen entscheiden muss, mit 80 % eindeutig das Fachliche, wie eine Studie von karriere.at ergeben hat.
Fix ist: Ein Lebenslauf will gut gefüllt sein, sowohl mit einschlägiger Ausbildung als auch gelebter Praxis, also aussagekräftigen Alleinstellungsmerkmalen. Was das CV aber gar nicht mag (weil PersonalerInnen keine Freude damit haben), ist überbordende Länge und Austauschbarkeit. Ein Hoch der Unverwechselbarkeit, der Individualität – und der Leidenschaft!
Thomas Olbrich hat langjährige Human- Resources-Erfahrung und ist Chief Culture Officer bei karriere.at.