Hyperaktive Akkordeon-Sounds, quengelnde 80er-Synthesizer, vibrierende Triller und pulsierende 90er-Techno-Beats: Wer schon mal durch die Straßen Wiens geschlendert ist – egal zu welcher Tageszeit –, hat dabei sicher an irgendeiner Ecke Turbofolk gehört. Warum Turbofolk weitaus mehr ist als nur Musik. Ein Essay.
Turbofolk ist die Musik des Jugoslawien-Konflikts und seiner inoffiziellen Wiedervereinigung in der Diaspora. Man hört ihn im 11., 10., im 12., 15. oder 16. Bezirk. Man hört ihn in ganz Wien, denn bekanntlich fängt hier der Balkan schon an. Die Entwicklung dieses Musikgenres ist geprägt vom Sozialismus, gewaltsamen Konflikten, zurück zu einer neuen Einheit im Ausland, das die neue Heimat ist, und entwickelt sich bis heute immer weiter. In den 90er Jahren als serbisches Propagandavehikel zur Verbreitung repressiv-konservativer und patriarchaler Werte – mit einmal mehr, einmal weniger nationalistischen Inhalten – entwickelt, sind Nationalismen und Propaganda heute verschwunden. Die Musik am Balkan passte sich nach dem Jahrtausendwechsel immer mehr dem westlichen Status-Quo an, ein bisschen Turbo und vor allem Folk finden sich aber noch als stetige Begleiter und Wiedererkennungs-Komponenten in der Musik der ex-jugoslawischen Staaten.
InterpretInnen wie Jala Brat, Mc Yankoo, Senidah, oder Maya Berović, die die junge Diaspora heute in Jugoclubs hört, sind nur wenige Beispiele einer riesigen Musikindustrie auf dem Balkan. Alle haben eine Gemeinsamkeit: Auch hier fließen Elemente aus traditioneller bosnischer oder serbischer Folklore-Musik ein.
Geborgtes aus dem Westen, Altes aus dem Osten
Seine Anfänge fand Turbofolk in den 70er Jahren, als man begann, klassische Volksmusik, die von Orchestern begleitet wurde, mit westlichen Einflüssen zu modernisieren. Um euch nicht zu lange mit historischen Facts aufzuhalten, hier eine kurze Zusammenfassung:
Jugoslawiens Staatschef Tito sagte ziemlich schnell »Ajde ćao!« zu Stalin und distanzierte sich immer mehr von der Sowjetunion. Tito verfolgte seinen eigenen Sozialismus und stellte sich außenpolitisch gut mit dem Westen. Das führte zu einem diversen Musikmarkt, der Rock-, Punk- und Pop-KünstlerInnen hervorbrachte, aber auch den Neo-Folk mit westlichen Elementen weiter ausbaute und poppiger werden ließ. Bald wurde Neo-Folk quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen populär und entwickelte sich als eigenständige musikalische Gegen-Musikkultur zum Westen.
Der größte Folk-Pop Star Jugoslawiens war die bosnische Sängerin Lepa Brena (Fahreta Jahić-Živojinović), die bis heute als ein Symbol für Jugo-Nostalgie steht. Nicht zuletzt, weil sie noch 1989, lange nach Titos Tod und kurz vor Ausbruch des Krieges, Jugoslawien besungen hat. In »Jugoslovenka« schwingt sie die jugoslawische Fahne mit dem roten Stern in der Mitte und singt im Refrain: »Meine Schwester ist die slawische Seele / Ich bin eine Jugoslawin.« Es scheint wie ein letzter, trauriger Versuch die aufkeimende, zerrüttete Stimmung noch irgendwie zu retten und an Solidarität zu appellieren.
Lepa Brena galt nicht nur wegen ihres Erfolges und der Popularität als die Madonna Jugoslawiens, sondern vor allem wegen ihrer Wandelbarkeit. War sie in den 80ern, am Anfang ihrer Karriere, noch das freche Dorfmädchen, erfand sie sich im nächsten Moment als verführerischer Vamp wieder, der offen mit ihrer Sexualität umgeht. Sonja Vogel analysiert das in ihrem Buch »Turbofolk – Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens«, folgendermaßen: Brena sei »keine sozialistische Heldin der Arbeit und keine Care-Arbeiterin des Kapitalismus, sondern eine junge Frau vom Dorf, die in der Stadt Karriere macht (…) Die ›natürliche‹ Dorfschönheit wird zu einer modernen, emanzipierten Frau, indem sie die Mode der Stadt annimmt.« Lepa Brena bot eine Reihe an Identifikationsmöglichkeiten für jugoslawische Frauen, doch auch hier hielt sich die Emanzipation in Grenzen, wie Vogel auch anmerkt: »Die Frau darf innerhalb dieses Rollenspiels dominant und frech sein, bleibt aber doch abhängig vom Mann.« Dennoch verkörperte Lepa Brena mehr Möglichkeiten, mehr Emanzipation und Freiheit als die Turbofolk-Stars der 1990er.
Im Turbogang in den Nationalismus
Was danach kam, waren nationale und religiöse Konflikte, Hyperinflation, Krieg und ein ultrarechts-konservatives Regime unter Slobodan Milošević. Dieses Regime mischte ordentlich in der Musikindustrie mit: Turbofolk wurde staatlich finanziert und produziert. Als in den 90ern Techno populär wurde, kam zu Akkordeon, Synthesizern, orientalischen Geigen und Trillern eine ordentliche Ladung harte Beats hinzu. Sogar »No Limit« von 2 Unlimited wurde schamlos kopiert und mit einem Folk-Akkordeon versehen. Das Ergebnis war ein ziemlich eigenartig klingendes Frankenstein-Genre mit Lyrics, die hierarchische Geschlechterrollen propagieren, und protzigen Musikvideos, die Wohlstand vorgaukeln, den in diesen Zeiten nur Kriegs-Profiteure genießen durften. Für den großen Rest, der den Kürzeren gezogen hat, war diese Glitzerwelt bloß Eskapismus. Einige Lyrics sind explizit nationalistisch, wie in »Srbija« von Viki Milikojvić aus dem Jahr 1994. Hier heißt es nämlich: »Ich liebe Männer, die Rakija trinken. / Ich liebe sie, weil sie nach Serbien riechen.« Wenn uns diese Zeilen eines über Nationalismus lehren, dann, dass Nationalismus grindig ist. Glaubt mir, ihr wollt nicht, dass euer Typ nach einem Schnaps riecht, dessen Alkoholgehalt so hoch ist, dass man damit auch Fenster putzen kann.
Ein weiterer Kollateralschaden dieser repressiven und patriarchalen Gesellschaft war die Entstehung des »Sponzoruša«-Topos, also einer Frau, die sich von ihrem Sugardaddy sponsern lässt. Im Turbofolk singen Frauen darüber, dass sie von Männern beschenkt werden wollen und Männer singen, dass sie Frauen beschenken – das geht mitunter so weit, dass sie ihr goldene Schuhe, drei Häuser und die halbe Welt kaufen. Ein Beispiel hierfür ist »Caki Cale«, ein Song von Snezana »Sneki« Babić – und ja, ich nehme das als Anschauungsmaterial, weil das, als ich ein Kind war, mein Lieblingslied war (schuldig!). In dem Lied geht es darum, dass ihr Dude ihr Schuhe kaufen soll: »Wenn du nicht weißt, welche (Schuhe) / Kauf mir die teuersten / Die stehen mir am besten.« Das Lied ist aus dem Jahr 1998, nur wenige Monate vor dem Embargo gegen Serbien, als die Wirtschaft bereits zusammengebrochen war, nur noch Armut herrschte und man aufgeschmissen war, wenn man keine GastarbeiterInnen-Verwandtschaft im Ausland hatte, die einem mit Geld oder Mitbringsel wie Waschmittel aushalf. Je schlimmer die Lage, desto konsumorientierter waren die Texte und desto mehr Klunker hängte man um die Hälse der schlanken Sängerinnen.
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