Karussell-Aktivismus – Wenn Bildung shareable wird

In den letzten Monaten wurde Instagram zu einer Plattform für Bildungsarbeit. Seit dem Corona­-Lockdown, vor allem seit dem Mord an George Floyd und den andauernden, hefti­gen Protesten gegen Polizeigewalt in den USA entstehen immer mehr Insta-Accounts, die Informationen leicht verständlich aufarbeiten. In Karussell­Postings wird aus komplexen politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten eine swipebare Zusammenfassung. Sie werden in Storys geteilt, verlinkt, getagged, empfoh­len. Das Weltgeschehen hat man schneller am Schirm als auf jeder Startseite einer Tageszei­tung. Wer steckt hinter diesen Accounts? Wie beeinflusst das unsere Weiterbildung? Können sie eine Chance für den Schulunterricht sein? Und was hat das Ganze mit Schafen zu tun?

© Lisa Schrofner

In Karussell-Postings von Social-Media-AktivistInnen haben viele und sehr unterschiedliche Themen Platz. Hier illustriert: In Belarus dauern die Proteste gegen den autoritären Staatschef Lukaschenko seit Wochen an, DemonstrantInnen werden gefoltert. — Eine massive Explosion in Beirut schafft für die Einwoh­nerInnen der Stadt, neben der Pandemie und den ökonomischen Folgen nach einem 15­jährigen Bürgerkrieg, noch größeres Leid. — Jemen erlebt gerade die größte humanitäre Krise des 21. Jahrhunderts. — In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Frau zu töten. — Laut Statistik passiert Racial Profiling in Österreich häufiger als im Rest Europas.

Die älteren Millennials unter uns werden noch wissen, wofür Instagram ursprünglich genutzt wurde. Das Jahr ist 2010. Auf random Fotos von irgendwelchen Kirschblüten, Hummustellern, Bücherstapeln, Selfies in Spiegeln mit Blumenkleidern wurden sehr kontrastreiche oder sehr ausgewaschene Filter draufgeklatscht. Immer ein bisschen retro, immer ein bisschen vintage. Hefe, Nashville, Toaster, Walden, 1977, Kelvin. Life is good.

Ein paar Jahre später wurde alles etwas gestriegelter, VSCO-Filter, weiße Rahmen, InfluencerInnen posten gesponserte Beiträge und essen perfekt arrangierte Frühstücksbowls. Während Instagram hauptsächlich da war, um mit schönen Selfies, lustigen Partyfotos und coolen Urlaubsorten ein etwas spannenderes Leben zu inszenieren, gewinnt das Teilen der politischen Meinung nun zunehmend an Bedeutung. Als die Migration syrischer und afghanischer AsylwerberInnen im Jahr 2015 zunahm, teilten UserInnen auch auf Instagram immer wieder ihre Positionen zu dem Thema. Seitdem stieß man häufiger auf »ernstere« Postings, konnte Screenshots aus Online-Artikeln und Rants in den Storys entdecken. Intensiviert haben sich konkrete Bildungsformate vor allem, seit George Floyd im Mai dieses Jahres in Minneapolis von Polizisten ermordet wurde. Unter dem Hashtag #blacklivesmatter, den es bereits seit 2013 wegen Polizeigewalt gegenüber BPOC in den USA gibt, verbreiteten sich nicht nur Postings zu den Zahlen und Fakten der Ereignisse. Mit rasanter Geschwindigkeit erfuhren wir, wie man sich als weißer Ally verhält, wie man sich zum Thema Rassismus weiterbilden kann, warum der Polizeiapparat an sich rassistisch ist und abgeschafft werden muss.

Seitdem wird Content dieser Art zahlreicher: »What is happening in Beirut?«, »What is happening in Belarus?«. Aber auch: »What is toxic positivity?«, »What does abolishing the police mean?«, »Why is the selfmade millionaire a myth?«. Das Design ist clean, die Infos sind kurz, sie werden in mundgerechten Häppchen serviert. UserInnen kennen sich nach dem Weg zur nächsten Bushaltestelle aus, was auf diesem Planeten abgeht. So schnell, wie wir das Weltgeschehen aufsaugen, so anspruchsvoll kann das Erstellen dieser Postings sein. Denn die Recherche und Aufbereitung kostet Zeit – wenn den Account- BetreiberInnen korrekte Fakten wichtig sind.

Die Arbeit hinter der Bildung

Das erzählt auch Emina Mujagić, 24 Jahre alt und Wiener Aktivistin mit bosnischen Wurzeln. Auf ihrem Instagram-Account @realtalkwithemina klärt sie über den bosnischen Genozid im Juli 1995 auf, empfiehlt Bücher dazu, gedenkt den Opfern von Christchurch, oder fasst die politische Lage in Montenegro zusammen. Generell könnte man meinen: Ein Blick in ihren Feed, und man weiß über alles Bescheid. Print ist tot – wegen Instagram-Infographics.

»Ich habe damit im Juni 2020 angefangen. Es hat mich genervt, dass so viele Menschen in Österreich nichts über Srebrenica wissen, und ich wollte aufklären. Ich dachte nie, dass das Posting so oft geteilt wird. Weil ich viele positive Reaktionen bekommen habe, wollte ich weitermachen. Jedem sollte Politik wichtig sein, jeder sollte sich dafür interessieren«, sagt Emina. Sie hat Publizistik und Kommunikationswissenschaft studiert und weiß, dass man vor allem bei News von privaten Social-Media-Accounts vorsichtig sein muss. Deshalb hat sie einen sehr hohen Anspruch an sich und ihre Arbeit. So hoch, dass es manchmal an ihr zehrt: »Mir ist es natürlich extrem wichtig, dass all die Fakten in meinen Postings aus verlässlichen Quellen kommen. Dafür sammle ich Infos aus Tageszeitungen, lese wissenschaftliche Papers zu den Themen oder spreche mit verschiedensten Organisationen. Manchmal bin ich aber komplett fertig und müde, aber ich muss es einfach machen. Ich habe das Gefühl, dass ich es einfach weitermachen muss.«

Einen ähnlichen Motivationsgrund hat auch Dunia Khalil: »Wenn ich das nicht mache, wer dann?« Die Wiener Jus-Studentin leistet mit ihren 26 Jahren bereits bemerkenswerte Arbeit. Bei Zara, dem Verein für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit, in verschiedensten Projekten und Arbeitsgruppen, unter anderem bei der OSZE, setzt sich Dunia gegen Rassismus und Hass im Netz ein. Den Fall des Wiener Rappers T-Ser, der im Herbst 2018 Opfer von Racial Profiling wurde, vertritt sie vor dem Verwaltungsgericht. In ihren Karussell-Postings auf dem Account @duniakhalilcevic bereitet sie Statistiken über Polizeigewalt in Österreich so gut auf, dass man mit diesem Wissen lästige, relativierende Diskussionen über das Thema im Vorbeigehen gewinnen kann.

Lieblingsfach Instagram

Ihre Themen und Quellen bezieht sie aus den Organisationen, in denen sie arbeitet, also aus Studien und Gesetzestexten. »Ich habe durch meine Arbeit gesehen, wie viel eigentlich falsch läuft, und wo kann man heutzutage besser Bildungsarbeit leisten als auf Social Media?«, sagt Dunia. Ihre Motivation? Ihr hat bei diesen Postings der Bezug zu Österreich gefehlt: »In Österreich läuft, was Rassismus angeht, sehr viel schief und ich denke, es ist auch meine Verantwortung, das aufzuzeigen.« Sie bekommt für ihre Arbeit viel Zuspruch, auch von SchülerInnen, und das bedeutet ihr besonders viel. »Ich war selbst als Schülerin naiv und wusste nicht, was Rassismus alles sein beziehungsweise beeinflussen kann.« Dunias Eltern sind aus Ägypten, in ihrer Schulzeit waren Themen wie Diskriminierung von Minderheiten kein Teil des Unterrichts. »Das ist so ein komplexes Thema. Ich habe das erst mit 21 gecheckt, nach zwei Jahren Studium, nachdem ich mich selbst weitergebildet und eingelesen habe. Sozialisierung ist mächtig und beeinflusst nun mal, wie und was wir denken. Wir sollten früher – schon in der Schule – lernen, kritisch zu denken.«

Weiter zu: Social-Media-Aktivismus im Schulunterricht und Argumente gegen Edge-Lords

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