Wir haben fünf ganz unterschiedliche Expertinnen aus dem Bildungsbereich gefragt, welche Herausforderungen und Chancen (Hoch-)Schulen heute annehmen müssen – und wie eine bessere Bildungszukunft aussieht.
Der »Ernst des Lebens« – mit Blick auf die eigene Schullaufbahn fallen wohl allen, die in konventionellen Bildungssystemen groß geworden sind, mehr oder weniger traumatische oder zumindest immens prägende Erfahrungen ein. Es gibt viel, was man an institutioneller Bildung kritisieren muss: die falschen Foki der Lehrpläne, struktureller Sexismus und Rassismus seitens der Lehrenden, veraltete Ansichten, welche Kompetenzen einen zum funktionierenden Erwachsenen machen. Das alles wird auch im sekundären und tertiären Bildungsbereich nicht unbedingt viel besser. Wie aber sollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Zukunft Bildung erfahren? Wie können uns Schule und Universität in der heutigen Zeit zu mündigen, kritischen und emphatischen Menschen machen? Und welche Bildungsansätze sind dabei am vielversprechendsten?
Anna Koller – Hochschulvertretung Pädagogische Hochschule Wien
Lehren mit Leidenschaft –– Angefangen bei der Schweizer Primarschule über die Hauptschule am Land bis hin zu Realgymnasium und anschließendem Studium in Wien bin ich auf meinem Bildungsweg vielen unterschiedlichen Bildungsinstitutionen begegnet und habe Vor- und Nachteile selbst erlebt. Dabei blieb aber eines immer gleich – egal, welches Modell: War die Lehrperson Feuer und Flamme beim Unterrichten, so waren es auch wir! Natürlich scheinen manche Bildungsmodelle vielversprechender als andere, doch steht und fällt die Umsetzung mit den Menschen. Nicht jedes Modell ist für jede Lehrperson, geschweige denn für jedes Kind, gleich zielführend. Individualität, Inklusion und Differenzierung werden heute und gerade bei der LehrerInnenbildung großgeschrieben. Aber was heißt das?
Die Individualität der Lernenden wie auch der Lehrenden sollte berücksichtigt werden, um gemeinsam – also inklusiv – differenzierten, an die Bedürfnisse des Individuums angepassten Unterricht zu gestalten. Uns muss bewusst werden, dass Bildung so viel mehr ist, als reine Wissensvermittlung. Bildung ist, sich mit dem Gelernten auseinanderzusetzen, es in Beziehung zu setzen, sich mit einzubringen und kritisch zu hinterfragen. Ich finde gerade momentan ist Bildung so ein flüchtiger Begriff und hat an Tiefe verloren.
Zwar sind es Schulen und Universitäten, die den Bildungsbegriff umsetzen, doch ist es die Mentalität, die wir der Bildung entgegenbringen, die ein Handeln kaum möglich macht. So sollten wir versuchen, die Einstellung zur Bildung an sich zu ändern. Bildung ist etwas so Wertvolles und wir sollten dankbar sein, dass es für uns hier in Österreich eine Selbstverständlichkeit ist, Bildung zu erfahren. Bildung sollte nicht nur gesellschaftlich mehr Anerkennung finden, sondern auch seitens der Politik mehr Wertschätzung erhalten. Wenn man in Bildung investiert, investiert man in die Zukunft der Menschen, und für mich gibt es nichts Lohnenswerteres als das.
Anna Koller studiert an der PH Wien Lehramt Primarstufe und ist seit Juli dieses Jahres Vorsitzende der Hochschulvertretung der PH Wien.
Florence Holzner – Colearning Wien
Voneinander lernen –– Düster! Und damit meine ich, dass grundlegende Änderungen dringlich wären. Menschen haben wohl das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit, Zugehörigkeit und Gestaltbarkeit in ihrem Lebensumfeld. »Künstliche Orte«, wie Spielplätze, Kindergärten und Schulen, die so strukturiert sind, dass sie wenig bis keinen realen Bezug zum Leben haben, machen wenig Sinn in einer Zeit, in der Automation und KIs in viele Lebensbereiche vordringen und das »Wissenslernen« zu einem Großteil übernehmen werden. Die nächste Innovation ist nicht, dass die Buchschule von der Tabletschule abgelöst wird. Wir brauchen Orte, an denen wir vor allem Menschlichkeit erfahren. Für mich bedeutet dies die Schaffung realer Orte mit realen Personen, realen Aufgaben und real erlebten Wirkungskreisläufen. Real im Sinne einer (be-)greifbaren Lebenswelt. Dazu drei Punkte:
1) Verlässliche und heterogene Bindungen zu Menschen
LehrerInnen sind mehr als nur WissensvermittlerInnen. Sie sollen wieder fassbare Vorbilder werden. Durch den Aufbau einer starken Bindung ist dies möglich. Weg von der Wettbewerbssituation und dem Miteinander von fast ausschließlich Gleichaltrigen. Kinder wieder mehr in die Eigenverantwortung nehmen.
2) Mitwirksamkeit
Kinder wollen sich etwa ab zwölf (auch früher) im wirklichen Leben erproben, Verantwortung übernehmen, wirkliche Erfahrungen mit echten Auswirkungen und Feedbackkreisen erleben. Bildungsorte zu schaffen, an denen dieses frühe Mitwirken in einer stark gehaltenen Umgebung gelebt wird, ist dringlich.
3) Die Art, wie wir lernen
Stupides Auswendiglernen können wir getrost den KIs überlassen. Wir wollen die Freude am Lernen nicht verlernen. Im Colearning Wien arbeiten und lernen Erwachsene vor den Kindern und um die Kinder herum, das schafft einen Sog.
Die Bildungsinstitutionen der Zukunft sind vielfältige Orte. Handwerk neben Büroarbeit neben Lernenden. Generations- und professionsübergreifend.
Florence Holzner ist Bautechnikerin und Lernbegleiterin bei Colearning Wien, einer freien Bildungseinrichtung und plattform für Lernende jeden Alters.
Andrea B. Braidt – Universität Wien
Queere Didaktik –– Die Zukunft institutioneller Bildung ist queer. Was das heißt? Wir müssen an der Universität dem Befund Rechnung tragen, dass Wissen keine absolute Größe ist, die einfach von Alt nach Jung vermittelt werden soll. Fridays For Future zeigt, dass Wissensvermittlung anders gehen muss. Wir tragen die Verantwortung, dafür universitäre Settings zu schaffen, die die Praxis des »Unlearning« (Fred Moten) ermöglichen: kollektive Wissensproduktion, die nicht an einem willkürlich gesetzten »Anfang« eine Geschichte oder Wahrheit zu erzählen beginnt, sondern die sich aus der Mitte heraus verbreitert.
Queer ist diese Art der institutionellen Bildung, weil der Rahmen der traditionellen Wissensproduktion dekonstruiert wird. Wir suchen gemeinsam jene Fragen, deren Beforschung unsere Schwarmintelligenz für sinnvoll, für lebensverbessernd, für politisch relevant erachtet. Universitäten sind – wie alles andere auch – durchdrungen von neoliberalen Effizienzmaximierungsmaximen. Schneller, aktiver, produktiver, keine Drop-outs, bessere Abschlussquoten, limitierte Zulassung. Dies ist auch der bedrohten Existenz so vieler Studierender geschuldet, für die Bildung der einzige Weg in ein gutes Leben ist, die keine reichen Eltern haben, die jahr(zehnt)e langes Studieren finanzieren, und die also angewiesen sind auf ein gut organisiertes, studierbares Studium.
Doch die Universitäten sind dennoch voller subversivem Potenzial, voller Abschweifungen und (hoffentlich bald wieder) voller aufregender Bewegungszonen. Nehmen wir für die Zukunft der institutionellen Bildung den Schlachtruf des Philosophen Paul B. Preciado mit: »Sie sagen Identität. Wir sagen Vielheit. Sie sagen Krise. Wir sagen Revolution.« Solange wir solche Sätze an der Universität zu hören kriegen, muss uns nicht bang sein.
Andrea B. Braidt ist Studienprogrammleiterin der Theater, Film und Medienwissenschaft an der Universität Wien, wo sie mit Nicole Kandioler, Claudia Slanar und Katja Wiederspahn im Herbst die Online-Tagung »Screenfest. Queer Film Festivals« organisiert.
Nina Mathies – Aktion kritischer SchülerInnen
Gegen soziale Selektion –– Wenn ich auf die Meilensteine meines bisherigen Lebens zu- rückblicke, fanden die meisten davon in einer Bildungseinrichtung statt. Schule kann gerade junge Menschen enorm formen und Platz zur Entfaltung bieten.
Leider wird dieses Potenzial, das Österreichs Schulen hätten, gerade nicht wirklich ausgeschöpft. Unsere Bildungseinrichtungen entwickeln sich immer weiter in ein System, das primär dem Aufbau von Wirtschaft und Arbeitsmarkt dienen soll und nicht den SchülerInnen, die darin lernen. Das ist klar erkennbar an dem steigenden Leistungs- und Notendruck in unseren Schulen. Ein ständiger Wettbewerb und Perfektionsdrang lasten schwer auf den Schultern der SchülerInnen, und viele zerbrechen unter dieser Last.
Einschnitte wie die der vergangenen Monate zeigen ganz klar: Bricht unsere Wirtschaft zusammen, ist unser Bildungssystem auch nicht mehr stabil. Während des Lockdowns haben sich viele Probleme verschlimmert. Unsere Schulen sind nicht genug digitalisiert, mentale Probleme von SchülerInnen haben sich verstärkt und sozioökonomische Unterschiede zwischen den SchülerInnen wurden klar ersichtlich: Denn eine Akade- mikerInnenfamilie mit großem Haus, fünf Computern und einer guten Internetverbindung kann ihr Kind im E-Learning viel besser unterstützen als eine ArbeiterInnenfamilie in einer kleinen Wohnung ohne Internetzugang.
Dieser sozialen Selektion muss Österreich klar entgegenwirken. Wir brauchen ausfinanzierte Schulen, um für alle die gleiche Ausrüstung und gleiche Chancen zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen inklusive Schulen, in denen alle SchülerInnen voneinander lernen und nicht in verschiedene Schultypen differenziert werden. Wir brauchen aufgeschlossene Schulen, in denen verschiedene Sexualitäten, Geschlechter, Herkünfte und Religionen gleichermaßen akzeptiert und auch thematisiert werden. Jede Ärztin, jeder Manager, jede Arbeiterin – alle gingen irgendwann selbst zur Schule. Wenn wir Veränderung in der Gesellschaft einfordern, sind unsere Schulen der Schlüssel dazu.
Nina Mathies ist seit 2017 in der SchülerInnenvertretung aktiv und seit Juli Bundesvorsitzende der Aktion kritischer SchülerInnen.
Lisa Hofer – Schule im Pfeifferhof Graz
In einer Zeit der Modernisierung und Technologisierung ist meine Vision von einem zukünftigen Schulsystem getragen von der Frage, was uns als Menschen »menschlich«, und Lernen zu einer freudvollen Angelegenheit macht.
Lernen, als Urbedürfnis des Menschen und Prozess des »Über-sich-selbst-Hinauswachsens« bedingt Ziele, die Sinn machen und ein Gefühl der Freude in uns auslösen sollten. Um diese Sinnfrage für alle Beteiligten eines (Bildungs-)Systems erfüllen zu können, braucht es die Möglichkeit zur Mitbestimmung und Mitgestaltung des Lernprozesses. Dadurch wird Lernen nicht mehr nur eine persönliche Angelegenheit, sondern zu einer gemeinsamen Sache, die eine Auseinandersetzung mit den aufkommenden Gedanken und Gefühlen, Kreativität und gezieltes Handeln fordert. In der Schule ist durch den fächerübergreifenden Projektunterricht meines Erachtens das beste Setting dafür gegeben. Lernen bekommt dadurch Prozesscharakter und Konflikte, die am Weg aufkommen, entpuppen sich oftmals als riesengroße Wachstumschance, wenn man diese durchlebt und anschließend gemeinsam reflektiert. Persönliche Potenziale werden sichtbar, indem man sie in Kleingruppen einbringt und der/die Einzelne als aktiver Mitgestalter*in Teil einer Gemeinschaft ist. Die Kunst der Pädagog*innen ist es dabei, den Kindern viel zuzutrauen und sie dort zu unterstützen, wo sie Hilfe benötigen.
Eine entscheidende Rolle für mehr Freude und Menschlichkeit im Bildungswesen spielen sicherlich wir Lehrer*innen. Wir müssten es schaffen, selbst wieder die Rolle des Lernenden einzunehmen: raus aus den Komfort-Zonen, hinein in unbekannten Situationen, wo persönliche Ängste und Abneigungen angesehen und überwunden werden können. So bleiben wir lebendig und offen für andere Sichtweisen. Um Kinder als mündige und kritische Mitgestalter*innen für die Zukunft vorzubereiten, wollen wir ihnen an der SiP Neugierde, Kreativität, kritisches Denken, Empathie, Kooperation und Konfliktfähigkeit mit auf den Weg geben. Wollen wir diese Werte in den Kindern wecken, müssen wir Erwachsenen sie jedoch zuerst in uns selbst kultivieren, weshalb wir uns als pädagogisches Team ständig selbst reflektieren und weiterentwickeln.
Unterdessen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir uns wegbewegen müssen vom Einzelgängertum und Konkurrenzdenken hin zu einer Kultur des Miteinanders, welche nicht nach dem Entweder-Oder, sondern nach dem Sowohl-Als-Auch sucht.
Lisa Hofer ist Pädagogische Schulleiterin der Grazer alternativen Privatschule SiP – Schule im Pfeifferhof.