Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium
zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal dankt er der Academy für das Erkennen von Talent, auch wenn es zunächst gar nicht danach aussieht.
»Wie viele Filme haben die sich angesehen? Fünf?«, schreibt mir Podcast-Co-Host Lily mit einer Mischung aus Augenzwinkern und unverhohlenem Missfallen. Eben waren die Nominierungen für die 93. Academy Awards bekanntgegeben worden – und wir konnten zunächst beide nicht anders, als die Listen erst mal nach den persönlichen Filmschatzis der letzten Saison zu durchsuchen, um in weiterer Folge fuchsteufelsmild zarte Verfluchungen auszustoßen. Weil eben selbst in unserem pandemischen Showbiz-Zustand, in dem ohnehin viele vorgeblich hochkarätige Produktionen verschoben werden mussten, etliche unserer Personal Faves keinen Platz im erlauchten Kreis des Prämierungswürdigen zugesprochen bekommen hatten.
Weil es ja nun echt nicht einzusehen ist, dass mit dem Turner-Prize- und eh auch schon Oscar-Gewinner Steve McQueen einer der herausragenden Kreativgeister unserer Zeit seine fünfteilige Film-Anthologie »Small Axe«, ein inhaltlich wie formell episches Black-Lives-Matter-Schlüsselwerk zaubern kann, ohne irgendeine Chance zu haben, damit die Aufmerksamkeit der Academy zu erhalten. Einfach nur deswegen, weil die aufwühlende, flirrende, facettenreiche Reihe über das von systemischem Rassismus durchdrungene Leben der karibischen Community in London der Breitenwirkung wegen zuerst in der britischen TV-Primetime lief und nicht in Kinos? Die ja ohnehin geschlossen waren? Von einem ebenso ausnahmslos negierten existenzphilosophischen Wunderwerk wie Charlie Kaufmans »I’m Thinking of Ending Things« will ich hier gar nicht erst zu schwärmen beginnen, sonst ist diese Kolumne bereits zu Ende, bevor sie begonnen hat.
Routine und Revolution
Hätte auch wenig Sinn, weil nun eh schon der Hollywood-gerechte Twist in dieser Gschicht ins Spiel kommt: Im Zuge der als Vorbereitung auf unsere Oscar-Podcast-Episode erfolgten Erst- wie Nochmal-Sichtungen aller Main Contenders kristallisierten sich – ei der Daus! – dann doch noch maßgebliche Filmfreundschaften heraus. Geholfen hat dabei allemal schon, dass uns keine wirklich alles falsch verstehenden Gurken wie der unsägliche 2019er-Preisehamster »Green Book« untergekommen sind. Und als es uns dann auch noch gelang, die beiden vergleichsweise abstinkenden Netflix-Großkaliber im Aufgebot, David Finchers ersten Altherrenfilm, die digital-düstere Old-Hollywood-Mimikry »Mank« und Aaron Sorkins routiniert geschwätziges Feelgood-Justizdrama »The Trial of the Chicago 7« als wohlmeinende Herzensprojekte zu akzeptieren, entpuppte sich das Line-up 2021, allen Unkenrufen vom vermeintlich vernachlässigbaren »Übergangs-Oscar« zum Trotz, gar als eines der beglückenderen der jüngeren Vergangenheit.
Also. Unerwartete, im Awards-Umfeld mitunter nachgerade radikale Ein- und Ansichten lieferten beispielshalber die subversiv saftige Female-Revenge-Fantasy »Promising Young Woman« mit der famosen Carey Mulligan im Auge des Orkans und der dringliche, ganz nah am Puls des Hier und Jetzt schlagende Black-Panther-Thriller »Judas and the Black Messiah« mit den beiden, absurderweise jeweils in der Kategorie »Bester Nebendarsteller« nominierten Hauptakteuren Daniel Kaluuya und LaKeith Stanfield (der wundervolle Weirdo Darius aus der exzellentesten Dramedy-Serie der Gegenwart, »Atlanta«). Ebenfalls ein großer Lichtblick: das feinfühlige Familiendrama »Minari«, das aus migrantischer Perspektive vom Kollidieren des ehrgeizigen Verfolgens des American Dreams mit der Realität und Dynamik des Privatlebens berichtet.
We’re All Nomad Here
Womit wir auch thematisch bei der potenziellen Abräumerarbeit des Abends angelangt wären: Chloé Zhaos »Nomadland«, das beruhend auf dem gleichnamigen Reportage-Bestseller Einblicke in Existenzen gewährt, denen Hollywood gemeinhin die kalte Schulter zeigt. Die Rede ist von den unzähligen unteren Zehntausend, die sich in den ruinösen Bedingungen des Spätkapitalismus als Arbeitsnomaden ohne festen Wohnsitz von einem McJob zum nächsten hanteln müssen. Leuten wie der von Frances McDormand erhaben uneitel gespielten Witwe im Fokus dieser spezifischen Erzählung, Leuten, die sich inmitten ihrer existenziellen Kämpfe aber doch stets auch der Hilfsbereitschaft und Warmherzigkeit anderer vom System Ausgespuckter versichert wissen dürfen.
Zhao, die im Fall ihres absehbaren Sieges überhaupt erst die zweite Filmemacherin wäre, die den Oscar in der Kategorie »Beste Regie« bekäme, fängt dieses Ringen um Resilienz, an die semi-dokumentarische Machart ihres auch schon tollen Vorgängerfilms »The Rider« anknüpfend, in naturalistisch-rauer Cinéma-vérité-Ästhetik ein, begegnet dabei den größtenteils »echten« Menschen ihres Casts beharrlich auf Augenhöhe, schafft Raum für Würde und Wahrhaftigkeit. Hier hat es einen Film, der Ode an die Freiheit ist und zugleich Loblied auf die Solidarität. Wenn es letztlich solche unverhofften Wagnisse sind, die die höchsten Weihen des Business erhalten, dann spielt es tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle, wie viele Filme die Jury sonst auf ihren Schirmen hatte – weil die in Erwägung gezogenen ohnehin einfach nur gut und richtig waren.
Christoph Prenner und Lillian Moschen plaudern im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Neulich dankten sie der Academy für das Erkennen von Talent – auch wenn es zunächst gar nicht danach aussah. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf Twitter unter @prennero zu finden.