Yvonne Widler hat ein Buch über Femizide verfasst. Sie hat dafür mit Expert*innen, Angehörigen sowie Opfern von Männergewalt gesprochen und sie zeichnet darin das Bild einer patriarchalen Gesellschaft, die Frauen und Mädchen weiterhin nicht genug vor Gewalt schützt.
Weltweit werden Frauen ermordet, weil sie Frauen sind, und vorwiegend werden diese Morde von ihren (Ex-)Partnern begangen. In Österreich gab es allein 2021 29 und dieses Jahr bereits 25 mutmaßliche Femizide (Stand: 6. September, Quelle: AÖF – Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser). Österreich wird in Berichten immer wieder als »Land der Femizide« bezeichnet. Warum das so ist und vor allem, was dagegen getan werden kann und muss, darüber hat Yvonne Widler ein Buch geschrieben. In »Heimat bist du toter Töchter« spricht die Journalistin und Autorin mit verschiedenen Expert*innen sowie mit Opfern von Männergewalt bzw. Angehörigen getöteter Frauen.
Was war Ihnen bei der Arbeit an »Heimat bist du toter Töchter« besonders wichtig?
Yvonne Widler: Das strukturelle Problem hinter diesen Morden sichtbar zu machen. Das Bewusstsein ist stärker geworden, wir sind aber noch lange nicht dort angekommen, wo wir im Jahr 2022 sein sollten. In meinem Buch habe ich mich in erster Linie Intimiziden gewidmet, also Partnerschaftsmorden, da diese den Großteil der heimischen Femizide ausmachen.
Es macht mich wütend, dass Beziehungstaten noch viel zu oft als private Angelegenheit abgetan werden. Denn hinter Femiziden stecken Geschlechterungerechtigkeiten und oft patriarchale Denkmuster wie Besitzdenken oder Frauenhass. Diese Männer meinen tatsächlich, die Frau gehöre ihnen. Will sie sich trennen, dann töten sie sie. Auch die viel diskutierte toxische Männlichkeit muss hier erwähnt werden: Die Täter weisen etliche Unzulänglichkeiten auf, so sind sie meist nicht imstande, mit negativen Emotionen oder Kränkungen umzugehen, also greifen sie auf Gewalt zurück. Doch Gewalt anzuwenden, ist immer eine Entscheidung.
Österreich ist in den letzten Jahren oft in den Schlagzeilen ob der vielen Femizide. Sie interviewten für Ihr Buch zahlreiche Expert*innen. Welche Gründe sehen diese dafür, dass gerade Österreich hier so negativ auffällt? Und wie sieht es mit der Datenlage zu Femiziden aus?
Österreich liegt bei Femiziden tatsächlich über dem EU-Durchschnitt, wobei ein europäischer Vergleich schwierig ist, denn in den verschiedenen Gesetzbüchern wird Mord unterschiedlich definiert. Im Jahr 2017 war Österreich jedenfalls das einzige EU-Land, in dem mehr Frauen als Männer ermordet wurden. Was die Datenlage betrifft, so gibt es bisher zwei große Studien zu Femiziden in Österreich. Hier, und auch bei der Evaluierung von Polizeiarbeit und gesetzten Maßnahmen, ist noch Luft nach oben. Das Kriminalitätsphänomen »Femizid«, bei dem Frauen rein aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, scheint zudem in Erhebungen wie der Kriminalstatistik oder im Sicherheitsbericht derzeit nicht als solches auf. Nicht nur in anderen Kulturen, die hier leben, auch in »österreichischen« Familien ist patriarchales Denken immer noch verankert. Wer glaubt, dieses Denken sei überwunden, täuscht sich. Dann kommen noch viele andere Faktoren hinzu: Krisenfamilien, in denen Gewalt über Generationen hinweg fortgesetzt wird, unzureichende Auseinandersetzung mit Rollenbildern und falsch verstandene Männlichkeit, Alkohol und Drogen, psychische Störungen, keine feministische Frauenpolitik, ökonomische Abhängigkeiten der Frauen … Die Liste ist leider sehr lang. Österreich hat ein Problem.
Die aktuelle österreichische Regierung im Allgemeinen und Susanne Raab als Frauenministerin im Speziellen wurden in der Vergangenheit oft dafür kritisiert, dass sie zu wenig gegen Gewalt an Frauen tun würden. Was bräuchte es, um hier Fortschritte zu machen? Kennen Sie Best-Practice-Beispiele, also Länder, die besser aufgestellt sind?
Es braucht schnelle, mittelfristige und langfristige Maßnahmen. Schnelle Hilfe bedeutet das Professionalisieren von Betretungsverboten, Fokus auf die Mängel bei der Beweismittelsicherung, deren Folge die Einstellung von Anzeigen ist. Außerdem muss der akute Schutz von Frauen forciert werden, indem man etwa die Frauenhäuser besser finanziert. Mittelfristig sollten Maßnahmen im Fokus stehen, um Hochrisikotäter besser zu erkennen. Seit September 2021 gibt es eine verpflichtende sechsstündige Beratung für Gefährder, die weggewiesen wurden, – um auch eine positive Veränderung aufzuzeigen. Spanien, das immer wieder als Vorbild angeführt wird, hat eine eigene Koordinierungsstelle geschaffen, deren Aufgabe es ist, Defizite im Gewaltschutz zu erkennen und auf notwendige Maßnahmen hinzuweisen. Auch in Österreich wird eine Beobachtungsstelle für Femizide und Gewaltschutz von vielen Seiten gefordert. Langfristig braucht es eine pro-feministische Politik und Gesellschaft.
Neben der Politik und ihrem Umgang mit feministischen Themen sind bei dem Thema auch Männer gefragt. Sie haben mit Expert*innen gesprochen, wie die Prävention hier aussehen sollte. Würden Sie die Ansichten der Expert*innen kurz skizzieren?
Die Basis ist eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft. Femizide hängen stark mit veralteten Rollenbildern und patriarchalen Denkmustern zusammen. Wir brauchen feministische Männer und Empörung über Männergewalt und Femizide bei allen Menschen. Ich habe vorhin gesagt, Gewalt anzuwenden, ist immer eine Entscheidung – und da sollten wir ansetzen: Gewaltkreisläufe durchbrechen, Gewaltgeschichten sich nicht fortsetzen lassen. Buben sollen lernen, über ihre Gefühle zu reden, und dies als Stärke sehen. Gewaltpräventive Bubenarbeit wird bereits gemacht, sollte aber intensiviert werden, genauso wie die Unterstützung von Krisenfamilien. Forschungen zeigen, dass Kinder, die Gewalt erleben, diese mit hoher Wahrscheinlichkeit später wieder erleben. Männergewalt beginnt nicht erst in der Partnerschaft, sondern entwickelt sich meist aus der Sozialisation. Bei Männern, die schon älter sind und ihren Partnerinnen gegenüber gewalttätig, geht es in erster Linie darum, dass sie lernen, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.
Natürlich sind nicht alle Männer gewalttätig gegenüber Frauen. Wie können sich gerade aber alle Männer bei diesem Thema verhalten?
Es gibt hier ein gutes Beispiel: Die Kampagne »Mann spricht’s an« des Sozialministeriums ist an Männer gerichtet, die einschreiten sollen, wenn sie in ihrem Umfeld Schieflagen bemerken. Auf einem Sujet ist ein junger Mann abgebildet, daneben steht der Schriftzug: »Checkst du, wie oag du über deine Freundin redest?« – Es fängt also schon dabei an, ob das männliche Umfeld bei einem frauenfeindlichen Witz mitlacht oder nicht. Es geht um Vorbildwirkung. Negative Männlichkeitsbilder im Sinne der toxischen Männlichkeit sind immer noch allgegenwärtig. Je mehr Männer sich im Sinne eines Vorbilds anders verhalten, desto mehr Männer werden ihnen in diesem Verhalten folgen.
Auch Medien haben eine Verantwortung. Sehen Sie als Journalistin österreichische Medien gut aufgestellt?
Der Begriff »Femizid« wird häufiger verwendet, das ist gut. In Spanien etwa weiß jedes Schulkind, was femicidio bedeutet. Berichterstattung über Frauenmorde ist wichtig, das Thema muss offen angesprochen werden. Der Fokus sollte allerdings auf das Gesellschaftsproblem gelegt werden und nicht auf reißerische Berichterstattung über Einzelfälle. Natürlich muss über jeden Femizid berichtet werden, doch gleichzeitig sollte dieser in eine größere Hintergrundgeschichte eingebettet und Hilfsangebote aufgezeigt werden. Außerdem darf es nicht passieren, die einzige verbliebene Sichtweise, nämlich die des Täters, zu übernehmen. Hier gibt es – wie so oft – ein massives Gefälle zwischen Boulevard und Qualitätsmedien. Ein positives Beispiel ist die APA, die eine wichtige Rolle spielt, da viele Medien deren Beiträge eins zu eins übernehmen und verbreiten. Dass verharmlosende oder rechtfertigende Begriffe wie »Familiendrama« oder »Verzweiflungstat« im Zusammenhang mit Femizidberichterstattung nicht verwendet werden, ist dort mittlerweile Konsens.
Sie selbst haben für Ihr Buch einige Betroffene interviewt. Wie gehen Sie vor, um gerade bei einem so heiklen Thema Vertrauen aufzubauen? Und was raten Sie Ihren Kolleg*innen?
Die Frauen, mit denen ich gesprochen habe, hatten sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Man macht oft den Fehler und wirft sie alle unter der Bezeichnung Gewaltopfer in einen Topf, schreibt ihnen ähnliche Verhaltensweisen zu, aber so ist das überhaupt nicht. Es gibt eine einzige Sache, die sie jedoch eint: Sie haben schlechte Erfahrungen mit Medien gemacht, und hier muss man ihnen so viel Spielraum wie möglich in der Gestaltung des Interviews einräumen. Ein Ort, wo sie sich wohlfühlen. Das Angebot, eine Begleitperson zu dem Gespräch mitzunehmen. Ich würde unbedingt zu persönlichen Treffen raten, da entsteht mehr Nähe und Vertrauen. Die Frauen immer ausreden lassen, nie unterbrechen. Sich bei der inhaltlichen Ausrichtung des Gesprächs nach ihnen richten und nicht den Fragenkatalog runterrattern. Ein Vorabtelefonat zum Kennenlernen ist auch ratsam. Ihnen Zeit geben, um sich die Zu- oder Absage zum Interview in Ruhe zu überlegen. Und auf keinen Fall drängen.
Vor Kurzem wurde in den USA das Abtreibungsrecht vom Obersten Gericht gekippt, in zahlreichen anderen Ländern kam es in den letzten Jahren zu einem anti-feministischen Backlash, ebenso werden die Rechte von Migrant*innen und queeren Menschen beschnitten. Wie schätzen Sie dies ein und wie wird sich Österreich künftig entwickeln?
Ich halte dieses Urteil für fatal, in gesellschaftlicher Hinsicht ist es ein dramatischer Rückschritt. Ein Verbot verhindert diese Abbrüche nicht, es macht sie bloß strafbar und gefährlicher für die betroffenen Frauen. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass es auch in Österreich kein Recht auf Abtreibung gibt. Sie ist auch bei uns strafbar. Sie ist bloß unter bestimmten Bedingungen, etwa in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten, straffrei. Die aktuellen Entwicklungen haben uns wieder einmal gezeigt: Frauenrechte müssen immer wieder aufs Neue erkämpft und verteidigt werden. Ich wünsche mir für Österreich eine fortschrittliche Frauenpolitik, eine feministische Politik, für die Gleichstellung und zugleich der Schutz der Frauen wirkliche Herzensthemen sind, und die sie deshalb auch beharrlich verfolgt.
Ihr Buch enthält diese Widmung: »Für alle Frauen, die heute nicht mehr für sich selbst sprechen können. Für alle Frauen, die Opfer von Männergewalt wurden.« Wem würden Sie die Lektüre Ihres Buches besonders ans Herz legen?
Frauenmorde haben System und sind keine schicksalshaften Einzeldramen. Täglich werden weltweit Frauen von (ihren) Männern ermordet. Die gesellschaftspolitische Dimension wird aber konsequent ignoriert, daher müsste dieses Problem jedem und jeder von uns wichtig sein, da wir Teil dieses Systems sind. Das Buch soll eine erste Aufarbeitung zur Lage in unserem Land sein und ist, denke ich, für alle interessant, die in einer sicheren, respektvollen und fairen Gesellschaft leben möchten.
»Heimat bist du toter Töchter« von Yvonne Widler erscheint am 12. September 2022 bei Kremayr & Scheriau.
Weitere Infos und Hilfe in Krisensituationen bieten – jeweils rund um die Uhr und kostenlos:
Frauenhelpline: 0800 / 222 555
Männerinfo: 0800 / 400 777
Telefonseelsorge: 142