Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im März 2023. Mit Romano, Karies, Hendrik Otremba, Oska Wald, Kurschatten und mehr.
Karies – »Tagträume an der Schaummaschine I«
Vor circa sechs bis zehn Jahren war Stuttgart, bis dahin nicht unbedingt für laute Gitarrenmusik bekannt, so etwas wie das Epizentrum von angesagtem deutschsprachigem Noise-Post-Whatever. Human Abfall oder insbesondere Die Nerven kennen alle. Aber auch in der zweiten Reihe entstanden wunderbare Alben wie jene der großartigen Karies, namentlich: »Seid umschlungen, Millionen« (2013), »Es geht sich aus« (2016) und zuletzt »Alice« (2018). Nach Pandemie und Umstrukturierungen im Bandgefüge erscheint nun der erste Teil eines neuen Veröffentlichungszyklus, dessen dämmernder Titel Programm ist und auch die musikalische Richtung vorgibt: Zwischen taghellem Postpunk der ganz klassischen Schule der 80er-Jahre und mitunter schlafwandlerisch sicherem Gespür für dreamy Avantgarde-Pop, klingt »Tagträume an der Schaummaschine I« nach Fiebertraum, aus dem man aber – Unterschied! – gar nicht aufwachen möchte. Sehr cool!
»Tagträume an der Schaummaschine I« von Karies erscheint am 10. März 2023 bei This Charming Man Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.
Hendrik Otremba – »Riskantes Manöver«
Soloalbum – wie das gleich immer klingt. Hendrik Otremba, seines Zeichens Popstar und Posterboy des deutschen Postpunk, (nun bandagiertes) Gesicht der Band Messer, Autor, Künstler, vieles mehr, hat für das erste Album unter eigenem Namen – Messer arbeiten gerade gemeinsam am nächsten, also kein Stress! – eine Heerschar an bekannten Menschen um sich gesammelt: Stella Sommer, Fabian Altstötter, Dagobert, Nagel, viele mehr. Auch musikalisch ist der Otremba niemand ohne Plan B, C und D – mehr Genrevielfalt als im Plattenregal des Elektronikgroßhandels. Man könnte ihn also auch in diesem Aspekt als Lügner in Sachen Albumtitel identifizieren. Vom Brachialen zum Zärtlichen, von Industrial zur Klavierballade, vom Goth zum Pop-Crooner. Das Kryptische in der Lyrik hat Otremba weder verlernt noch abgelegt, im Gegenteil sie ist auf »Riskantes Manöver« nun endgültig ein Fall für Kryptoanalytiker*innen. Besonders bemerkenswert ist darüber hinaus die Erscheinungsform – das Album wird als Doppel-10-Inch. Das Auge isst mit.
»Riskantes Manöver« von Hendrik Otremba erscheint am 31. März 2023 bei Trocadero. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.
Romano – »Vulkano Romano«
Wer die Mitte des letzten Jahrzehnts nicht komplett verschlafen oder versoffen hat, dürfte sich an Romano erinnern, den Mann mit dem Putin-Face, den Pferdemädchen-Zöpfen und zotisch-übergriffigen Party-Rap-Hits wie »Klaps auf den Po«, »Mutti« oder »Metalkutte«. Weil sich im Leben nun einmal alles ändert, macht der Berliner nun – mit seinem dritte Album, das letzte erschien bereits 2017 – einen auf Schlagersänger, statt Klapse am Arsch gibt’s Klöße im Hals, Romano erweist sich als »Mann für gewisse Stunden«, mit im Boot ist auch Genregott Alexander Marcus, sein Feature-Gaga-Song »Samurai« ist das Highlight des Albums. Wenngleich man Romano viel vorwerfen kann, muss man ihm mehr denn je ein gutes Maß an Selbstreflexion und Selbstironie zugutehalten – die Basis für die Fleischwerdung als Schlagersänger. Die Texte sind natürlich ziemlich gaga, häufig grenzwertig, aber immer on brand, wie die Kids sagen. Also von dem her: Alles richtig gemacht!
»Vulkano Romano« von Romano erscheint am 24. März 2023 bei Nonstop Pop Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.
Oska Wald – »Motel Reno«
Werte Lesende, kennen Sie George Kuchar? Oska Wald, Sänger, Songschreiber und Gitarrist der tollen Gruppe Chuckamuck schon. Auf seinem neuesten Soloausflug widmet er diesem legendären US-Filmemacher sogar ein ganzes Album – oder zumindest große Stücke daraus. Ähnlich wie der 2011 verstorbene Kuchar sagt Wald der Großstadt, aus der er kommt, Lebewohl, zieht zumindest metaphorisch in einem Motel ein und widmet sich dem Beobachten des Wetters, mitten in der Tornado-Saison im mittleren Westen. Musikalisch bleibt er den letzten Chuckamuck-Alben treu. Wenngleich er die Handbremse seines Pick-ups durchaus auch zu lockern vermag, ist sie meistens angezogen. Der Sunshine-Indie-Pop ist eher luftig, fließend und melancholisch. Mit seiner charakteristisch nölenden Stimme singt er sich durch 33 Minuten Urlaub im Regen. Die Texte sowohl mit überraschend klarem Storytelling als auch mit kryptischer und verklausulierter Lyrik, immer ein Auge für die Schönheit im Banalen. Sehr gut geworden.
»Motel Reno« von Oska Wald erscheint am 17. März 2023 bei Bretford Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.
Kurschatten – »Träume in Pastell«
Aufmerksam Lesenden ist die an Ort und Stelle vorherrschende Zuneigung für das Dortmunder Label Bakraufarfita Records höchstwahrscheinlich nicht verborgen geblieben. Wenn wir nun die lautstarke Vermutung äußern, dass mit dem Debüt der Dortmunder Postpunk-Wave-Gruppe Kurschatten das bisher beste Album auf ebenjenem Label erscheint, dürfte uns die Aufmerksamkeit gewiss sein: »Träume in Pastell« ist ein wunderbarer Monolith geworden – so schroff wie die Küste Irlands, nur weniger Kitsch im Sinne Rosamunde Pilchers. Dafür gibt es dunkle Dystopien, denen nur das flackernde Neonlicht Hoffnungsschimmer bieten könnte. Die tristeste Dystopie ist natürlich der Alltag, dessen alles auffressendes Unbehagen, dem Kurschatten gleichermaßen einen Abgesang und ein Denkmal widmen. Auffallend gut ist neben dem treibenden Wave auch der Einsatz der Stimmbänder, die an jene von Turbostaat erinnern. Englischer Postpunk trifft also Northern Punk, mitten im Ruhrgebiet. Schon ziemlich super. Tipp des Monats!
»Träume in Pastell« von Kurschatten erscheint am 17. März 2023 bei Bakraufarfita Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Frittenbude – »Apocalypse Wow«
(VÖ: 10. März 2023)
Für die besten deutschen elektronischen Tanzmusiker standen die Zeiten eine Zeit lang auf Veränderung: Ekstatische Live-Auftritte sind seit dem Vorgänger »Rote Sonne« genauso weggefallen wie Gitarrist Martin Scheer; auf dem sehr guten Vorab-Track »Vorbei« hört man Johannes Rögner erstmals singen, noch dazu handelt es sich dabei um eine sommerpoppigen Indie-Nummer. Auf Albumlänge gibt’s dann aber doch wieder ordentlich Bumms – und, wenn man diesen alten Kalauer nehmen darf: Das ist auch gut so. Hier kaufen.
Tristan Brusch – »Am Wahn«
(VÖ: 24. März 2023)
Der deutsche Pop ist ja selten um die ganz große Geste verlegen. Ein Meister dieses Faches ist mit Bestimmtheit der Gelsenkirchener Tristan Brusch, auf dessen neuem Album konsequenterweise gleich die ganze Welt umarmt wird. Der eigentliche Pop-Romantiker, der auf »Am Wahn« etwa auch mit Säuselstimme Annett Louisan kooperiert, entwarf ein Konzeptalbum über eine toxische Beziehung – Emotionen hüben wie drüben, Achterbahnfahrten aus Gitarrenchansons und orchestralen Crescendi. Eben, die ganz große Geste. Hier kaufen.
Niels Frevert – »Pseudopoesie«
(VÖ: 24. März 2023)
Der grundsympathische Niels Frevert ist niemand, der für allzu arge Aufschneidereien bekannt wäre. So tiefzustapeln, wie er es im Titel seines bereits siebten Soloalbums macht, hätte er gar nicht gemusst, denn: So schlimm ist es auch wieder nicht, was der mittlerweile 55-Jährige zu seinem von Klavier und Gitarre getragenen und teilweise sehr luftigen Indiepop auf das Lyric-Sheet geschrieben hat. Im Gegenteil, es sind wunderbar bildhaft erzählte Geschichten der Melancholie des Alltäglichen. Hier kaufen.
Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.