Christina Wessely stellt das Schreckgespenst Wochenbettdepression in den Mittelpunkt und umreißt gleichzeitig all die kleinen Nuancen und Unwägbarkeiten, die dem Lebensabschnitt Mutterwerden-Muttersein angehören. Wesselys »Liebesmühe« demonstriert das Durchbrechen der stummen Akzeptanz gesellschaftlicher Erwartungen.
Mutter zu werden / Mutter zu sein, ist ein höchst individueller und privater Prozess, der nur allzu gerne als größtes Ziel einer jeden Frau dargestellt wird. Ein Denken, dass weiblich gelesene Personen oft genug in eine Ecke drängt: Mutterschaft ist obligatorisch und noch dazu hat es die betreffende Person gefälligst auch noch zu lieben, Mutter zu sein!
Die namenlose Hauptfigur in Christina Wesselys Roman »Liebesmühe« wird zum ersten Mal Mutter und gerade durch ihre Namenlosigkeit zu einer von vielen, einer Person mitten aus der Gesellschaft. Doch anders als uns so manche Frauenzeitschrift weismachen will, sind Mütter in unserer Gesellschaft nicht immer mit sich im selbst im Reinen, selbstsicher und stark. Dies zeigt sich in dieser episodenhaft aufgebauten Geschichte, die sich ausreichend Zeit dafür nimmt, endlich auf all die kleinen Herausforderungen dieser neuen Lebensphase einzugehen. Das vermeintlich Selbstverständliche und auch das täglich von so vielen Müttern selbstverständlich Hingenommene, bekommen hier Namen.
Das gesamte Spektrum
Während die Autorin also die Wochenbettdepression akribisch abarbeitet, erfasst sie ungeschönt die Nuancen des zu erlebenden Spektrums: vom Selbst als Milchfabrik bis zum absoluten Hoch der mütterlichen Liebesgefühle. Zudem macht sie auch vor höchst kontroversen Gedanken nicht halt, etwa wenn sie Mutterschaft an die sozial vorgegebene Opferbereitschaft koppelt oder diesen besonderen Lebensabschnitt als etwas Unentrinnbares darstellt; als einen Moment nämlich, ab dem es kein Zurück mehr gibt – oder vielleicht doch?
Ein wahres Gefühlschaos, welchem Rechnung getragen wird, indem die zentrale Figur sich auf die Suche nach dem eigenen Ich begibt – dem verlorengegangen oder verlorengeglaubten Selbst, welches sich nur langsam wieder zu zeigen beginnt. Etwas, mit dem sich die eine oder andere Mutter sicherlich nur allzu gut identifizieren kann.
Wessely widerlegt so auf feinfühlige und (tief)sinnige Art und Weise den schönen Schein der perfekten Mutterschaft, lässt vielmehr Falten und Narben in strapaziertem Gewebe erkennbar werden; bis hin zum Erkunden der tiefsten Wünsche und Gefühle.
Mutterschaft und Gesellschaft finden sich gemeinschaftlich unter dem Mikroskop wieder, wenn das Schlaglicht auf die verschiedensten Arten von Einflüssen gelenkt wird, von den ungefragten Meinungen anderer Menschen, über die ständige Glücklichkeit anderer Mütter bis hin zur Schwierigkeit des täglichen Spaziergangs. Flankiert von Social-Media-Müttergruppen, gut gemeinten Ratschlägen oder auch googlebaren (und damit potentiell tödlichen) Krankheitserregern, navigiert die unter gesellschaftlichem und psychischem Druck Leidende so das Dickicht der Mutterschaft und legt offen, dass diese alles ist, aber ganz sicher nicht privat, selbstsicher und mit sich im Reinen. Vielmehr werden gut gemeinte Hilfsangebote für frischgebackene Mütter oder Gespräche in Turngruppen zu Wurfgeschossen, die eine Person bis ins Mark erschüttern können. So entsteht ein wahrer Dschungel an Verhaltensregeln und Erwartungen, der an so vielen Stellen undurchdringlich scheint und damit den Druck noch weiter verstärkt – der Druck von außen, von innen, schlicht: von überall.
Unendliche To-dos
Das textliche Einarbeiten von sozialen und psychologischen Komponenten, von Müttergruppen und Werbematerial, schwingt zwischen Aha-Moment, Komik und Ernsthaftigkeit. Etwas, dass sich insbesondere dann überdeutlich zeigt, wenn Antworten oder Ratschlägen simple Aufzählungszeichen vorangestellt werden und sich so in eine vermeintlich nicht enden wollende Liste von To-dos verwandeln – eine Auflistung des ständigen Müssens und Sollens, des Alltages einer Mutter unter Strom.
Wenngleich Christina Wessely durch das Einarbeiten vom Infomaterial und Kommunikationsmedien manches Mal ins faktenlastige abzudriften droht, ermöglicht es gerade die Verarbeitung von bekannten Motiven, sich selbst mit der Hauptfigur und ihrer Situation zu identifizieren. Eine Vorgehensweise, die immer wieder die Illusion eines privaten und eigenständigen Selbst auflöst, ja stattdessen wiederholt auf das eigene Eingespannt-sein in ein undurchdringliches System verweist. Ein System, welches anders Denkende, anders Lebende nur allzu gerne ins Außen manövriert.
»Liebesmühe« ist zwar keine leichte Kost, entfaltet aber durch seinen episodenhaften Charakter und die gesellschaftlichen Bezüge eine große Sogwirkung. Der hohe Grad an Wiedererkennungswert lässt zudem immer wieder die verschiedensten Fragen aufpoppen, wie etwa: Welche Art von Mutter bin ich? Oder noch viel wichtiger: Wer bin ich, seit ich Mutter bin?
»Liebesmühe« von Christina Wessely ist im Hanser-Verlag erschienen.