»Ich kann nach wie vor so blöd sein, wie ich will« – Ein Gespräch mit dem Esel aka Lorenz Seidler

Lorenz Seidler aka Esel ist seit über 20 Jahren fixer Bestandteil der Wiener Kulturszene. Er fotografiert, dokumentiert und gilt als Schnittstelle zur doch manchmal recht elitären Kunstbubble. Ein Gespräch über Fotografie, den Kunstmarkt und die Frage, wie der Esel alle seine vielfältigen Projekte und Ambitionen unter einen Hut bringt.

© Lorenz Seidler / esel.at

Lorenz Seidler und sein Schaffen in Worte zu fassen, fällt schwer. Wir versuchen es hier trotzdem. Seit über 20 Jahren bewegt sich der gebürtige Wiener, vielen besser bekannt unter seinem Pseudonym Esel – Eigenschreibweise »eSeL« –, geschickt durch die Kunst- und Kulturszene der Stadt. Der Esel fotografiert und dokumentiert, was das Zeug hält. Seidler transportiert – mittlerweile mit einem Team um sich – all das nach außen, was im kunstaffinen Wien passiert. Und das ist so einiges, wie er im Gespräch mit The Gap erzählt: »Als ich 1998 mit meiner Radiosendung begann, gab es vielleicht zehn coole Termine pro Woche. Jetzt gibt es fünf pro Tag.«

Mittlerweile legendär ist das wöchentliche »Esel Mehl«, ein kuratierter E-Mail-Newsletter mit Tipps und Fotos aus der Wiener Kunstwelt. Der Esel gilt seit jeher als Schnittstelle zwischen Museen, Institutionen und all jenen, die sich für Kunst interessieren. Das Markenzeichen in seinem Schaffen ist ohne Zweifel der stets leicht ironische Unterton – oder um es in Seidlers Wortlaut auszudrücken: »Ich glaub, ich bin ganz lustig.« Die Rolle des Kunstvermittlers möchte er dabei aber nicht einnehmen. »Meine Aufgabe ist es nicht, der Kunst zu dienen und irgendetwas rhetorisch aufzubereiten«, führt er aus. »Ich bin Schnittstelle, Kommunikation. Ich gebe Fakten weiter.«

»Ich weiß gar nichts«

Doch wie kam es dazu, dass Seidler mittlerweile ein Team – liebevoll »Eselschwarm« genannt – um sich geschart hat, mit eigenen Räumlichkeiten im Museumsquartier? Wenn er von der Vielzahl seiner Ausstellungen, Kunstprojekte, Initiativen und dergleichen erzählt, fällt es schwer, aus dem Staunen herauszukommen. Eine Frage drängt sich auf: Schläft der Mann jemals? Momentan ist jedenfalls kein Ende seines Schaffens in Sicht.

Aber zurück an den Anfang: Lorenz Seidler wurde 1974 in Wien geboren. »Mein Vater stammt aus einer sehr bürgerlichen Familie«, erzählt er. »Es gab bei ihm immer einen Bezug auf einen Wissenskanon, viel intensiver noch als das zum Beispiel in der Kunstwelt der Fall ist. Das bleibt halt auch nicht ohne Folgen«, blickt Seidler zurück. Seine Mutter wiede­rum stammt aus einer Arbeiter*innenfamilie, insofern sieht sich der Esel als eine »wienerische Konfiguration«. Später folgte dann das Studium der Kunstgeschichte sowie der Philosophie an der Uni Wien. Ein Medium hat es ihm dabei besonders angetan: »Ich habe dauernd fotografiert«, erinnert sich Seidler im Gespräch. Erst für Stadtzeitungen und dann für die eigenen Projekte.

Doch wie wurde aus dem Kunstgeschichte- und Philosophiestudenten der Esel? Das Pseudonym diene ihm oft auch als Schutzschild, so Seidler. Während der Kunstgeschichtestudent stets über alles informiert sein möchte, könne der Esel schon einmal von sich behaupten: »Ich bin der Esel, ich weiß gar nichts.« Doch der Esel ist auch neugierig und lernt gerne dazu. Erstmals in Szene gesetzt wurde die Figur dann in den frühen Nullerjahren beim freien Radiosender Orange 94.0. In seiner Sendung versuchte der Esel, die Co-Moderatorin Sarah Pichler aka »das Schaf«, »die sich nicht so wirklich für Kunst interessiert hat«, in der laufenden Sendung davon zu überzeugen, »dass das doch irgendwie cool ist«, erzählt Seidler. So sei der Esel bereits früh zur Tarnung für einen »Klugscheißer der Kunstwelt« geworden. Der Esel kann jedoch immer auch ein bisschen, naja, eben Esel sein, was Seidler durchaus recht ist: »Ich kann mit dem Esel nach wie vor so blöd sein, wie ich will«, erklärt er schmunzelnd.

Der kultige Newsletter entstand damals, um die Radiosendung anzukündigen – reingemogelt zwischen andere hochkarätige Kunst- und Kulturtipps. Das Konzept ging auf. Das sei wohl rückblickend auch einer Zeit geschuldet, »in der die Leute sich noch gefreut haben, wenn sie E-Mails kriegen, und alles abonniert haben, was nicht bei drei auf den Bäumen war«, so Seidler. Der Newsletter ist innerhalb kürzester Zeit explodiert, das Projekt Esel wurde größer und größer. »Ich würde gerne sagen, dass ich mir das alles vorher urleiwand am Papier überlegt habe, aber rückblickend waren das fast alles reine Zufälle.« Auch, dass »Esel« im Grunde seine ausgesprochenen Initialen sind, habe er erst realisiert, als es den Spitznamen bereits gab. Seither schreibt er sich selbst eben mit großem S und großem L.

Eines zieht sich jedenfalls durch Seidlers Alltag und Werdegang: die ständige Konfrontation mit der Kunst. Die Arbeit am Esel-Kalender hat er mittlerweile teils an seinen »Eselschwarm« abgegeben, wie er im Gespräch berichtet. Anstatt tagtäglich den Kalender zu betreuen, beschränkt sich das nun auf zwei Tage in der Woche. Hinzu kommt das Aufbereiten des wöchentlichen Newsletters. Im nächsten Leben würde der Tausendsassa lieber ein Projekt starten, »bei dem ich einmal im Quartal was mache und den Rest des Jahres blau«, wie er grinsend festhält. Aber, so viel Aufwand er sich damit auch antue: »Ich bin dazu gezwungen, mich ständig zu informieren, das ist eigentlich eh ganz cool.«

Der Esel und die Fotografie

Ein Fixpunkt im Newsletter ist die von Seidler kuratierte Fotostrecke. Mittwochnacht sitzt der Esel auf der Couch und – anstatt vielleicht einmal früher ins Bett zu gehen – schaut die Fotos der letzten Woche durch. Dabei werden auch Schmankerl für andere Projekte gefunden, etwa für das »Esel ABC«, das in Zusammenarbeit mit Künstler*innen wie Johannes Grenzfurthner, Jörg Piringer, Tex Rubinowitz und Sophia Süßmilch in der Esel Rezeption im Museumsquartier zu sehen war beziehungsweise ist. Denn Fotos gibt es auf den Speicherkarten von Lorenz Seidler mehr als genug. Immer begeisterter Fotograf gewesen, profitierte auch er von der Digitalisierung im Fotobereich. Während das früher mit relativ hohen Materialkosten verbunden war, »kannst du heute bei einem Shooting rausgehen und theoretisch 1.000 Bilder schießen«, so Seidler. Und bei der Vielzahl an geschossenen Bildern lernt man stets dazu. So stelle auch er durchaus fest, dass er fotografisch »viel besser« sei als vor 20 Jahren.

Dabei sieht er seine Arbeit trotz fortschreitender Automatisierung nicht als gefährdet an: »Alles, wo es nicht spezifisch mich braucht, um das zu machen, soll bitte wer anderer machen«, sagt er spitzbübisch. »Meine Fotos haben einen gewissen Witz. Das ist dann ein Esel-Foto« so Seidler. Die Witze in den Fotos – das stellt Seidler entschieden klar – würden allerdings nie auf Kosten einer Person gehen. Ein Fotobuch über Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder etwa führte laut Seidler auch zu »wenig schmeichelhaften Bildern«. Doch selbst diese wurden für ihre Originalität gelobt. »Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass er sich erstmals auch für mich interessiert«, erinnert sich Seidler amüsiert.

Von der Wiener Fotoszene

Den Esel kann man mit Sicherheit als eine der zentralen Figuren in der Wiener Fotoszene sehen. Was hat sich in dieser getan, seit Seidler mit seinen Projekten begonnen hat? »Vor zehn Jahren ist in Wien wieder der Fotohype ausgebrochen«, bestätigt er. Nach wie vor seien die Galerie Westlicht sowie die alte Ankerbrotfabrik wichtige Player. Und auch hier gebe es einen sozialen Faktor: »Leica (Sponsor der Galerie Westlicht, Anm. d. Red.) ist ja in Wahrheit ein super elitäres Ding«, stellt Seidler klar. Dadurch ermöglichte Ausstellungen wären dann aber für viele Besucher*innen ein ungezwungener Berührungspunkt mit dem Kunstmarkt. Und solche Punkte brauche es dringend. »Mit Fotos kannst du relaten«, meint Seidler.

Einen niedrigschwelligen Zugang zur Kunstwelt, den möchte auch Seidler mit seinen Esel-Projekten schaffen. »Ich find’s nach wie vor okay, wenn jemand nur zum Saufen und Tschicken auf eine Vernissage geht.« Denn: »Vielleicht lernt man ja dort trotzdem die richtigen Leute kennen und ein Wissenstransfer passiert.« Der Kunstmarkt ist ein Thema, das Seidler in seiner Karriere schon oft beschäftigt hat. Im Gespräch denkt er etwa zurück an das Jahr 2012, an ein Projekt in den Geschäftslokalen der Gumpendorfer Straße. Für das »Kunstmarkt-Experiment« haben damals ausgewählte Künstler*innen Werkserien entwickelt, deren Preis mit steigender Anzahl an Reservierungen sank. Als Unikat gab es ein Werk für 1.600 Euro zu erwerben. Sobald eine zweite Person aber ebenfalls Interesse zeigte, sank der Preis pro Exemplar auf 850 Euro. »Am Schluss gab es dann teilweise Bilder um 80 Euro, das war wirklich super.« Die Aktion sieht Seidler heute nach wie vor als eines seiner besten Projekte an – »aber viel zu aufwendig«, resümiert er aus heutiger Sicht. Dennoch gestaltet sich seine Herangehensweise an Projekte nach wie vor ähnlich: »Es muss ein Thema geben, das mich interessiert, und das will ich dann ein bisschen durcheinanderwirbeln.«

Der Esel als kulturelles Erbe

Als vielleicht bekanntestes Projekt gilt eine Schau im Essl Museum, die eher durch Zufall für viel Aufsehen sorgte. Die interaktive Ausstellung »Esel: Die Sammlung Esel« widmete sich mit einer Vielzahl von Fotos, Videos, gesammelten Flyern und Prospekten dem Kunstgeschehen der vergangenen Jahre. Eine beachtliche Sammlung. Seit diesem Jahr ist die Esel-Datenbank übrigens auch offiziell digitales Kulturerbe Europas. »Unsere Daten sind bald wissenschaftlich zugänglich und zitierbar«, freut sich Seidler. Die Ausstellung im Essl Museum war jedenfalls die letzte, die dort vor der Schließung des Museums stattfand. So sei es damals zu »einer Vielzahl von Katastrophentourist*innen« gekommen. Ob es sein bedeutendstes Projekt war? »Ich sehe es nicht als das Wichtigste, was ich je gemacht habe«, hält Seidler fest – und zitiert an dieser Stelle Edgar Allan Poe: Für ein gutes Leben sei es wichtig, einen Gegenstand steten Trachtens zu haben, den man jedoch ohne Ehrgeiz verfolge.

Aber wie lässt sich diese Fülle an Lebensinhalten mit einem Privat- und Familienleben vereinbaren? Immerhin ist Seidler mittlerweile Vater zweier Kinder und im September 50 Jahre alt geworden. Die Arbeit empfinde er nach wie vor eher als Freizeit. Allerdings: »Ich schaue mittlerweile, dass ich nicht mehr jede Nacht unterwegs bin.«

Näheres zu Lorenz Seidlers Projekten sowie Neuigkeiten aus der Wiener Kunstwelt findet ihr unter www.esel.at.

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