Anno Homo Sapiens

Ist es in Ordnung, dass wir die Jahre in „vor und nach Christus“ einteilen? Ein Tiroler Astronom verneint dies in seinem Buch "Ist unsere Zeitrechnung noch zeitgemäß?" ausdrücklich. Wir fragen: Warum denn?

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Manchmal braucht es Menschen, die sich über Dinge Gedanken machen, über die kein anderer nachdenkt – zum Beispiel über unsere Zeitrechnung. Zu diesen Menschen gehört Ronald Weinberger. Der mittlerweile pensionierte Astronom hat ein Buch geschrieben, in dem er unsere bisherige Zeitrechnung genüsslich kritisiert. Weinberger will allerdings nicht den Gregorianischen Kalender abschaffen, sondern den Referenzpunkt Christi Geburt. Dieser sei vage und viel zu kulturspezifisch. Darüber hinaus stellt sich der Tiroler als kein besonderer Fan des Christentums heraus.

Als Gegenvorschläge führt Weinberger die Entstehung des Homo Sapiens in Afrika vor etwa 200 Jahrtausenden an und kombiniert diese mit der ersten Mondlandung im Jahr 1969. Eben dieses Jahr wäre bei ihm das Jahr 200.001 und wir würden derzeit im Jahr 200.044 leben – Kurzschreibweise 2’044. Dass die Menschwerdung vor etwa 200.000 Jahren (plusminus 10%) durchaus auch als „vage“ bezeichnet werden kann, lässt darauf schließen, dass man die Thesen des Autors mit einer Portion Humor betrachten sollte. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, auch Althergebrachtes nicht als gegeben hinzunehmen, sondern wissenschaftlich und humanistisch zu überdenken. Wir haben Ronald Weinberger ein paar Fragen gestellt.

Also jetzt mal ohne Herumdrucksen: Ist unsere Zeitrechnung noch zeitgemäß? Ja oder nein?

Jein.

Das ist Herumdrucksen.

Ja, da sie "funktioniert" und eigentlich deswegen von kaum jemandem kritisch hinterfragt wird und wir Menschen Gewohnheitstiere sind. Nein, da sie zu sehr christlich geprägt ist und auf jemanden Bezug nimmt, der 1. zu seinen Lebzeiten völlig unbedeutend war, 2. gar nicht genau vor 2012 Jahren auf die Welt kam und 3. eine Religion begründete, deren Wirken man durchaus hinterfragen darf und sollte.

Wie ernst ist es Ihnen? Oder geht es nur darum, grundsätzliche Gedanken anzuregen?

Es geht mir vorzugsweise darum, grundsätzliche Gedanken anzuregen. Ich schlage allerdings immerhin auch konkrete Lösungen vor!

Zu den vorgeschlagenen Lösungen: Ist der Vorschlag mit dem Auftreten des Homo Sapiens zu beginnen nicht ebenso willkürlich? Wäre der Beginn der Welt (13,75 Milliarden Jahre vor Christus) nicht angemessener?

Vielleicht ein bisschen willkürlich. Aber ist das Freisein von ideologischen, politischen, kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen bei der Wahl einer Jahreszählung nicht "Gold wert“? Ihr Vorschlag mit den 13,75 Milliarden Jahre krankt daran, dass diese Zahl zu abstrakt, zu groß, zu unhandlich und zu "unmenschlich", mit nichts Lebendigem verbunden ist. Außerdem sollten Sie nicht außer Acht lassen, dass wir Astronomen durchaus die Möglichkeit sehen, dass es vor "unserem" Universum Vorgängeruniversen gab.

Besteht nicht Kultur letztlich auch daraus, Referenzpunkte zu setzen, egal wie vage und willkürlich diese auch sein sollten? Muss der Versuch, Kultur zu objektivieren, nicht zwangsläufig scheitern?

Kann sein, ist häufig so, muss aber nicht so sein. Unter "Kultur" versteht beinahe jeder etwas Anderes. Im engeren Sinn, also auf Kunst beschränkt, würde der zweite Satz weitgehend stimmen. Nimmt man hingegen Kultur als Summe aller Lebensrealitäten, dann ist das Setzen wohl definierter (!) Referenzpunkte in einer plan- und handhabbaren "modernen" Welt unverzichtbar.

Wo ist das Problem unterschiedlicher Skalen, solange deren Verhältnis bekannt ist? Die Welt geht ja auch nicht unter, weil Temperaturen in Kelvin, Celsius und Fahrenheit gemessen werden.

Zu viel Vielfalt macht Kopfweh. Die Menschen gieren nach einfachen Antworten, besonders in einer komplizierter werdenden Welt. Aber: Wenn schon eine einfache Anwort, dann möge diese doch bitte sachlich begründet, klar definiert und nicht an einem fragwürdigen Kurzzeitprediger ausgerichtet sein.

Ist es nicht völlig normal, dass sich in einer globalisierten Welt auf internationaler Ebene eine Lesart durchsetzt? Man nehme nur mal die englische Sprache..

Da wird man ja doch wohl den Versuch unternehmen dürfen gegenzusteuern. Trägt zur Buntheit der Diskussion bei.

Letzte Frage: Die Welt geht durch den Maya-Kalender ohnehin unter. Sollte man daran nicht erkennen, dass man besser die Finger von fremden Kalender lässt? Und ist das Thema Zeitrechnung dann nicht eh auch passé?

Das ist ja das Blöde: Meine Vorschläge finden ohnehin nur bis 21. Dez. 2012 Gehör, per mayanischer Definition. Bis dahin hätte ich allerdings schon noch Zeit aufgrund meiner gefährlichen Ideen gevierteilt, verflucht und vorher mit saudummen Fragen a lá "Wozu machen Sie das?" gequält zu werden. Anderseits gestaltet das Ganze mein drei Tage vor dem Heiligen Abend endendes Pensionistendasein etwas gehaltvoller.

Ronald Weinberger "Ist unsere Zeitrechnung noch zeitgemäß? Die westliche Jahreszählung ist anachronistisch und verdient(e) eine Neudefinition" ist bereits im Juli 2012 bzw. Juli 2’044 im Studia Universitätsverlag erschienen.

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