Die Piratenpartei war Anfang 2012 der Star der deutschen Politszene. Nach #Emogate, #Kevingate und einem verwirrenden Parteitag versucht nun ein Buch das Chaos zu ordnen. Juliane Alton hat das "Die Piratenpartei" von Jan Seibert gelesen.
Im Jahr 2012 ein Buch heraus zu bringen, das Geschichte und Gegenwart der (deutschen) Piraten-Partei ausführlich zu schildert, ist ebenso verdienstvoll, wie auch der Wunsch der Piraten im Titel dieser Rezension. Es spricht auch nichts dagegen, die Piraten-Parteien aus einem Standpunkt der Sympathie für ihre Ideen zu betrachten – nichts ödet mehr an, als eine angestrengte Objektivität, die sich als Chimäre heraus stellt.
Im Buch "Die Piratenpartei – Der Beginn einer neuen politischen Ära" werden „strukturelle Ziele“ und „ausgewählte Programm-Ziele“ der Piratenpartei dargestellt, natürlich hauptsächlich der deutschen Piratenpartei. Schade ist der Verzicht auf eine ausführlichere Schilderung der Geschichte der schwedischen Piraten, der Wiege aller Piraten-Parteien, die sich von den deutschen Piraten durchaus unterscheiden: Die schwedischen Piraten haben ungeheuer viele Mitglieder (sie liegen nicht weit entfernt von der Mitgliederzahl der Moderaterna, der konservativen Regierungspartei dort). Und sie schrecken Frauen offenbar nicht in dem Ausmaß ab, wie dies anderswo der Fall ist.
Die Ziele
Die strukturellen Ziele sind schnell aufgezählt: Transparenz des Staatswesens, „Kampf der Hinterzimmer-Politik“, Volksinteressen vor Wirtschaftslobbyismus, Basisdemokratie, Basisbindung versus Fraktionszwang und Schwarmintelligenz-Prinzip versus allwissende Politiker.
Transparenz des Staatswesens ist eine uralte Forderung, denn Oppositionspolitik setzt sich immer für Transparenz ein, Regierungspolitik wehrt solche Ansinnen ab, so gut sie kann, um möglichst ungestört schalten zu können. Um diese Forderung zu erheben (konkret z.B. die Abschaffung der Amtsverschwiegenheit, das Datenschutzgesetz bietet genügend Schutz für private Daten), hätte es die Piraten nicht gebraucht. Doch die Zeit und die Piraten helfen zweifellos, das Ziel zu erreichen.
Wir sind das Volk
Beim Slogan Volksinteressen gegen Wirtschaftslobbyismus tritt eine (gewollte?) Naivität zutage. Klar, „wir sind das Volk!“ – doch kennen wir so genau die Interessen dieses Volkes? Wenn „das Volk“ niedrige Benzinpreise will – soll der Landeshauptmann dann Benzingutscheine verteilen? Vielleicht jedoch helfen die Piraten-Parteien dabei, den Drehtüreffekt deutlicher sichtbar zu machen: Allzu viele einflussreiche Politiker verschwinden durch eine Drehtür auf Managementposten in einflussreichen Wirtschaftsunternehmen und umgekehrt.
Auch für die Basisdemokratie wird der „Wille des Volkes“ heraufbeschworen, „so nah wie möglich“ sollen Parteienbeschlüsse dran sein. Doch die Parteibasis unterscheidet sich stark von der „Volksbasis“ – wessen Wille wird da vertreten? Basisdemokratie braucht transparente Regeln, doch solche auszuarbeiten und erfolgreich einzusetzen, ist nicht so einfach. Das zeigt die Geschichte der Grünen (eine „etablierte“ Partei in den Augen der Piraten), wo basisdemokratische Wahlen z.B. für die Erstellung von Wahllisten eingesetzt werden. Die Ergebnisse decken sich durchaus nicht immer mit dem, was strategisch für die Erreichung der Ziele am sinnvollsten wäre…
Der Fraktionszwang ist ein Problem von Regierungsparteien, er widerspricht dem freien Abgeordnetenmandat und ist damit ungesetzlich. Interessant wäre es, dazu den „Willen des Volkes“ zu kennen. Es ist durchaus denkbar, dass eine klare, eingepeitschte Haltung (z.B. in Zuwanderungsfragen) hier einer differenzierten, als Streiterei wahrgenommenen Position vom „Volk“ vorgezogen würde.
Auf der nächsten Seite: Arbeiten im Schwarm, Urheberrecht und Stärken des Buchs.
Im Schwarm
Interessant ist die Frage der Schwarmintelligenz. Doch unterscheidet sich die einzelne Biene vom individuellen Menschen vor allem dadurch, dass sie kein Individuum ist, sondern in einer festgelegten Struktur einen fixen Platz einnehmen muss. Davon haben die Menschen sich weitgehend befreit, diese Freiheit wollen sie auch behalten. Dass die Entscheidungen Vieler mehr Qualität aufweisen können als die Entscheidungen Einzelner ist dann der Fall, wenn eine Frage in einem ausführlichen Beteiligungsprozess erörtert wird, in dem alle Beteiligten, auch entscheidungsbefugte Politker/innen, dazu lernen. Solche Prozesse sind genuin basisdemokratisch und zielführend – allerdings sind sie auch aufwändig.
Urheberrecht, Breitband, Mobilität
Die Parteiziele der Piraten sind eine Reform des Urheberrechts (mit Kulturflatrate zur Abgeltung kreativer Arbeit), „fahrscheinloser Nahverkehr“ (um ein Grundrecht auf Mobilität einzulösen), Breitband für alle, bedingungsloses Grundeinkommen und keine Patente auf Lebewesen. Das wird knapp abgehandelt und dabei betont, dass es sich hier um polarisierende Forderungen handelt, die deshalb den Piraten Öffentlichkeit und Erfolg bringen. Dass praktisch all diese Forderungen auch von anderen Parteien erhoben werden, zum Teil bereits gesetzlich (aber nicht unbedingt in der Praxis) umgesetzt sind, wird übergangen.
Diese politische Naivität ist ein Hauptproblem des Buches, sodass eine gewisse Geduld erforderlich ist, die gut 400 Seiten zu lesen. Die Kritik, dass „Politiker gegen den echten politischen Mehrheitswillen der Bürger“ handeln, ist mitunter mehrmals auf einer Seite zu finden und ermüdet zunehmend.
Die Stärken des Buchs
Eine Stärke hingegen ist die ausführliche Behandlung einzelner politischer Themen und deren Entwicklung über Jahre und durch mehrere politische Instanzen: Dem Softwarepatente-Krieg sind allein 120 Seiten gewidmet. Dem Thema ACTA sind weitere 100 Seiten gewidmet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Internet als Lebensbereich verstanden wird, der anderen Regeln unterliegen sollte als die analoge Welt, oder vielmehr überhaupt keinen Regeln. Doch das scheint in einem Gemeinwesen, wo die Rechte von Einzelnen sich oftmals widersprechen und gegeneinander abgewogen werden müssen, abwegig. Sollen unterschiedliche Regeln gelten für eine Straftat, die in der analogen Welt stattfindet und dieselbe Tat, wenn sie im virtuellen Raum begangen wird? Den Wert der Internetfreiheit absolut zu setzen ist den Piraten-Parteien unbenommen, es gibt auch gute Gründe für diese Haltung. Doch ein Buch über die Piraten-Partei dürfte auch Einwendungen der Kritiker einer absoluten Internetfreiheit aufgreifen und ernsthaft abhandeln.
Abschließend wird die Frage diskutiert, ob die Piraten-Parteien mit ihren „visionären Zielen“ in zehn Jahren noch gebraucht werden, oder ob selbst Parteien wie die CDU in Deutschland das „liquid feedback“ zur Normalität in ihrer Parteistruktur machen. Liquid Democracy wird als Methode beschrieben, die Parteien eigentlich überflüssig macht, weil sie überall ausgeübt werden kann, auch in Aktionärsversammlungen, auch in Parlamenten. Als Beispiel wird beschrieben, dass Mensche ihre Stimmen im Bundestag „zu Wirtschaftsfragen der CDU, zur Arbeitspolitik der SPD, zur Verkehrspolitik der FDP, zur Umweltpolitik den Grünen, zur Sozialpolitik der Linken, zur IT-Politik den Piraten übertragen“ könnten. Das ergebe ein System von ständig wechselnden Mehrheiten, wo Parteien keine Koalitionspartner mehr brauchen, um sich in einem Gebiet durch zu setzen.
Hat irgendwer diese Idee zu Ende gedacht? Die Piraten? Der Autor? Die Praxis parlamentarischer Arbeit kann jedenfalls nicht Mutter dieser Gedanken sein. Nützlich sind die Piraten-Parteien dennoch, Bücher über sie auch.
"Die Piratenpartei – Der Beginn einer neuen politischen Ära" ist bereits via Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen.
Juliane Alton war Obfrau der IG Kultur Österreich und ist seit Jänner 2011 Mitglied des Landesvorstands der Grünen Vorarlberg.