Strukturentwicklung einer Stadt

Essays über St. Pölten. Die urbane Annäherung und ein Wiener, der in die Heimat zurückkehrt. In den zwei Teilen der Serie erklären Johannes Reichl und Rainer Bracharz, wie sich die Stadt so entwickelt hat.

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Essays über St. Pölten, Teil 1: St. Pölten verdankt seinen Aufstieg klugen lokalen und glücklichen überregionalen Entscheidungen. Johannes Reichl, Chefredakteur des MFG-Magazin, über ein neues Lebensgefühl in der Landeshauptstadt, das wohl bleiben wird.

St. Pöltens Urbanität wurde in den letzten Jahren sichtbar, ist aber eigentlich die Folge eines lange andauernden Prozesses, der mit der Hauptstadtwerdung Mitte der 80er eine Initialzündung erfuhr. Auch wenn diese paradoxerweise zunächst das Provinzielle verstärkte, so dürfte allmählich die Wende geschafft sein. Am stärksten zeigt sich dies daran, dass der St. Pöltner – viele Jahrzehnte in diversen Kabaretts als Provinzler par excellence persifliert – mit einer gesunden Portion Lokalpatriotismus bei gleichzeitiger Selbstironie durchs Leben marschiert. St. Pölten, diese kleine Stadt, ist ihm nunmehr auch emotional ans Herz gewachsen. Er weiß sie zu schätzen, auch richtig einzuschätzen – weil St. Pölten eben nicht Linz, Graz oder gar Wien ist, sondern eben die kleine, feine 52.000-Einwohner-Stadt.

Die neue, allmählich um sich greifende Urbanität lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen. Etwa daran, dass aktuell eine Reihe von innovativen, originell-mutigen Geschäftsprojekten umgesetzt werden. Die Statistik gibt diesem (auch durch ein konzertierteres City-Stadtmarketing und eine einmütigere Innenstadtkaufmannschaft begünstigt), fruchtbaren Weg recht.

Das Glück des Tüchtigen

Mit Bürgermeister Matthias Stadler ist ein moderner Pragmatiker ans Steuer gekommen, der als Sozialdemokrat einen äußerst wirtschaftsfreundlichen Kurs fährt, ohne deshalb die Stammklientel vor den Kopf zu stoßen. Seine erste Amtshandlung war eine neue Schanigartenverordnung, durch die heute eine nie geahnte Lebendigkeit in der City herrscht. Auch unter seinem Vorgänger bereits angebahnte urbane Entwicklungen hat Stadler offensiv aufgegriffen und weiterentwickelt, etwa die Viehofner Seen samt »Seedose« als neu erschlossenes Freizeitareal oder der weitere Ausbau der Fachhochschule. An anderer Stelle profitierte St. Pölten von überregionalen Entscheidungen, wie der überfälligen Renovierung des Bahnhofes, der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke oder auch dem neuen (nicht unumstrittenen) Fußballstadion – von den Landeskultureinrichtungen wie Landesmuseum, Bühne im Hof oder Festspielhaus ganz zu schweigen. Selbst auf die Verwaltungsebene trifft dies zu, freilich weniger aus dem Betrieb der Landesregierung selbst heraus, als vielmehr aus dem Faktum, dass im Sog der Institutionen neue Bürger hinzugezogen sind, die sozusagen neues Blut in die St. Pöltner Venen pumpen.

Musik? In St. Pölten?

Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass in St. Pölten eines Tages mit dem Frequency Festival und dem Beatpatrol Festival gleich zwei der größten österreichischen Festivals vonstatten gehen werden? Das Beatpatrol, als St. Pöltner Eigenmarke lanciert, verweist auf eine starke elektronische Community, die etwa im Warehouse Entfaltungsmöglichkeiten findet. Andere Genres wiederum finden sich im Frei.raum oder im Cinema Paradiso, das sich längst vom reinen Programmkino hin zum Veranstaltungshotspot entwickelt hat. Selbst den Hauch einer – wenn in Wahrheit gar nicht der Fall, weil offiziell geduldet – kreativen Besetzerszene gibt es in St. Pölten mit LAMES, einem Künstlerkollektiv, das auf einem Areal im Süden der Stadt Schnittpunkt für einen bunten Haufen kreativer Köpfe aus Nah und Fern ist.

Es gäbe noch viel zu erwähnen, was sich da in den letzten Jahren entwickelt hat, bis hin zum MFG-Magazin, das in gewisser Weise ein Spiegel dieser neuen Urbanität ist. Einer Urbanität, die ein zartes aber zähes Pflänzchen zu sein scheint, nach dem Motto: »Ich bin gekommen, um zu bleiben, geh nicht mehr weg!« Das lässt mich optimistisch in die Zukunft blicken.

Weiter geht’s mit Teil 2 unserer Essays über St.Pölten. Rainer Bracharz schreibt über die Entwicklung der Stadt.


Zurück in die Zukunft

Essays über St. Pölten, Teil 2: Immer mehr gutverdienende Mitdreißiger kehren Wien den Rücken und siedeln nach St. Pölten zurück. Ihre Ansprüche, aber auch ihre Kaufkraft verändern das Stadtbild. Rückkehrer Rainer Bracharz beschreibt die Stadt vor und nach seiner Auszeit.

Als Jugendlicher in St. Pölten war es Anfang der 90er selbstverständlich, in Autokolonnen in die Bundeshauptstadt zu fahren und das Nachtleben zu genießen. Hatte man die Schule dann einmal hinter sich gebracht, stand so bald wie möglich der Umzug nach Wien an. Entweder als Student mit Studentenwohnung oder gleich als Job mit passender Wohnung in Arbeitsstättennähe. Die Heimkehr nach St. Pölten kam in keiner Zukunftsplanung vor. Wozu auch? Zukunftsperspektiven waren hier nicht zu erkennen und der Abschied fiel alles andere als schwer.

Heute sieht die Sache anders aus. Vor zwei Jahren habe ich meinen Lebensmittelpunkt von Wien Neubau nach Niederösterreich, konkret Wilhelmsburg mit Panoramablick in die Voralpen, verlegt. Kein Einzelfall. Zahlreiche Heimkehrer meiner Altersklasse trifft man in neuen, angesagten Lokalitäten in St. Pölten. Man kennt sich von früher, tauscht Lebensgeschichten und neue Adressen aus. Fühlt sich positiv bestätigt. Die Motivation ist oft Familiengründung und der Wunsch nach Haus mit Garten. Manche glauben aber auch einfach an eine dynamische Entwicklung der Stadt St. Pölten.

Was ist passiert?

St. Pölten ist näher an Wien gerückt. Die Innenstadt liegt mittlerweile nur noch eine gefühlte U-Bahnfahrt entfernt. 25 Minuten Fahrdauer zwischen St. Pölten und Wien Westbahnhof auf der neuen Westbahnstrecke. Diese lang ersehnte infrastrukturelle Erweiterung gepaart mit der damit aufgebauten Erwartungshaltung sind meiner Meinung nach als Hauptgrund für die Beschleunigung einer urbanen Stadtentwicklung zu sehen.

Verringerung der gefühlten geografischen Distanz bewirkt auch eine mentale Annäherung an das urbane Leben. Es gibt auffällige Parallelen zwischen Wiener Neustadt und St. Pölten. Wiener Neustadt begann bereits Anfang der 90er Jahre, stärker als der restliche Wiener Speckgürtel zu wachsen. Die infrastrukturelle Nähe zu Wien kombiniert mit günstigeren Lebenshaltungskosten und Firmenansiedlungen begünstigte diese Dynamik. Ganz ähnlich wie St. Pölten heute. St. Pölten ist immer noch nicht Wien, und wird es auch nie werden. Alte Muster bleiben. Vereinfacht ausgedrückt: Man zieht immer noch weg. Man kommt aber mit 30 Jahren immer öfter zurück. St. Pölten ist nicht mehr nur Speckgürtel-, sondern auch Rückkehrer-Stadt.

Angebot und Nachfrage

Diese 30- bis 35-jährigen Rückkehrer sind verwöhnt. Von gutem Essen, pulsierendem Nachtleben, einem breiten Kultur-Angebot. Die Nachfrage danach wächst spürbar und will befriedigt werden. In St. Pölten sind es besonders die jungen Unternehmerinnen, die das erkennen und für entsprechende Angebote sorgen. Die kulinarische Wüste wird an vielen Fronten begrünt. Von Cup Cakes zu modernen Cafés, von Bio-Läden zu Feinkost-Geschäften und Concept-Stores wie »Is the new« von Kerstin Selberherr. Manch alteingesessener St. Pöltner Gastronom wie Herbert Weidinger hat mit hochwertigen Lokalen wie dem Café Schubert und dem Emmi bereits vorgezeigt, wie gut qualitativ hochwertige und urbane Konzepte angenommen werden. Auch weil St. Pölten mittlerweile mehr Bonzen- als Arbeiterstadt ist. Die Kaufkraft ist auf dem Niveau von Baden und weit vor Wiener Neustadt und Krems. Das Geld ist da. Die neuen Angebote folgen.

Niederösterreich ist Schwerpunktthema in der Feberausgabe von The Gap, mit Clubkultur (Warehouse, Jazzkeller Krems, Sub, Redbox Mödling etc.), einem Wortwechsel zu schwarzer Kulturpolitik, zwei Texten zu St. Pölten, Filmpolitik und einem Interview zur Jugendkultur im Waldviertel.

Bild(er) © Political Mother - Ben Rudick Festspielhaus - Margherita Spiluttini
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