Zum nachgebeteten Credo, die Fernsehserie sei das bessere Kino. Teil 1.
Die Behauptung, Fernsehen bzw. Fernsehserien seien das bessere Kino, hören sich mittlerweile schon ziemlich schal an. Nicht weil sich vor etlichen Jahren damit noch Leadership in Mediendiskursen behaupten ließ und es jetzt eh schon jeder weiß. Sondern weil das Ding an sich – längere (horizontale) Erzählstrecken würden mehr Echtheit und Komplexität schaffen – nur bedingt stimmt. Das tut so, als wäre die menschliche Wahrnehmung eine Frage des Raumangebots. 100 Stunden wären besser als eine. Hochgelobte amerikanische Fernsehserien wie »Homeland« machen aber den Eindruck, dass sie ihren Komplexitätsanspruch vor allem in die Länge ziehen wie einen Strudelteig. Wäre ja dem fundamentalen Fernsehgesetz, das Publikum zu behalten, so lange es nur geht, nicht fremd. Wieso sollten Alan J. Pakulas Paranoiafilm »The Parallax View« (1974) oder John Frankenheimers »The Manchurian Candidate« (1962) nicht weniger komplex, /real/ und virtuos sein?
Mehr Echtzeit
Wer meint, dass mehr Erzählzeit auch intellektuell stärker stimuliert, sitzt vielleicht einer anderen lustigen Idee von Fernsehmachern auf, die Serien über den Echtzeit-Trick verkaufen wollen. Darum scheint es ja irgendwie auch zu gehen: Realität wird dadurch gewonnen, dass Erzählstrukturen an unsere »natürliche« Wahrnehmung angenähert werden. Also kriegen wir auch mehr Wirklichkeit geliefert.
Wer an das rumänische Kino denkt, z.B. »Aurora« (2010) von Cristi Puiu oder »4 Monate, 3 Wochen und zwei Tage« (2007) von Christian Mungiu, das auch seit Jahren mit Echtzeit experimentiert, wird merken, dass Film wie ein Zeitfenster funktioniert. Man steigt in eine Erzählung, in das Leben von Menschen ein und folgt ihnen einen Ausschnitt lang. Das Ende des Films bedeutet nicht deren Lebensende. Andernfalls hat Partizipation nicht stattgefunden.
Natürlich lässt sich in einer Serie von zehn oder 100 Stunden quantitativ mehr und in immer neuen Episoden erzählen. Aber ist das deshalb besser? Haben wir von einem Prinzip, von einem dramaturgischen Dreh, von einem aufgeworfenen Problem mehr erfahren, weil uns statt einer Eiskugel 100 serviert wurden? Das klingt nach einer zu simplen Rechnung für die menschliche Fähigkeit und Lust, zu abstrahieren. Mit dem im Übrigen wiederentdeckten Credo der »horizontalen« Erzählweise ist nur für den Fernsehsender, aber nicht für den Fernseh-Zuschauer etwas gewonnen. Figuren werden einem nicht deshalb länger in Erinnerung bleiben und begleiten, nur weil sie einem mehr Zeit gestohlen oder länger genervt haben.
Ein Berg namens HBO
Dass das nordamerikanische Fernsehen Serien wie die bunte Mythenkammer »Deadwood« hervorgebracht hat, ist eine Errungenschaft, und zwar vor allem für das Fernsehen selbst. HBO hat in einer flachen Landschaft einen Berg hingeklotzt, dessen Erklimmung sich lohnt. Dass das Kino nachdrückliche und komplexe Erzählungen mit wesentlich geringerem Zeitaufwand erschafft, zeigt sich etwa an den in Kürze anlaufenden Filmen »Winterdieb« der Schweizer Ausnahme-Regisseurin Ursula Maier oder, ein Beispiel aus den USA, Terrence Malicks fundamental angelegtem, impressionistisch erzähltem Entwurf »To The Wonder«.
Zweimal wird die Natur menschlicher Beziehungen mit einer außerordentlichen Intensität und Bildgewalt angerissen, fern des Fernsehschematismus, so offen für die eigene Erzählung, für sein Publikum, für die Welt, dass einen das noch lange beschäftigt. So banal es klingt, aber Erzählungen scheinen zumindest ebenso viel mit Vertikalität, mit Höhe und Tiefe, zu tun zu haben als mit Horizontalität, also der Breite. Oder schon einmal versucht, sich horizontal zu versenken?