Das Gefühl selbst Schuld zu sein, an allem was passiert, eröffnet digitalen Spielen eine ganz neue Ebene, die kein anderes Medium bieten kann. Was es dazu braucht sind echte Entscheidungen und glaubwürdige Charaktere.
Auf meiner Liste der besten Titel meines Spielerlebens rangiert „The Witcher 3: Wild Hunt“ irgendwo sehr weit oben. Aber wenn ich zurückdenke, an die unzähligen Stunden, die ich mit Geralt of Rivia verbracht habe, werde ich traurig und ein bisschen nachdenklich. Weil alles schief gegangen ist. Nichts so, wie ich es wollte.
Auf Details der Handlung möchte ich hier nicht eingehen. Aber die Witcher-Trilogie kann unterschiedliche Enden nehmen. Bessere und schlechtere, basierend auf Entscheidungen, die während des Spielens getroffen werden. Das hat es schon oft gegeben. Aber in den allermeisten Fällen waren gute Entscheidungen klar von den bösen zu unterscheiden. Egal ob in „Knights of the Old Republic“, „Fable“ oder „Infamous: Second Son“ – das waren Entscheidungen, ja, aber sie waren simpel und ein bisschen plump: Willst du der Gute sein? Dann drücke X. Spannend waren einige Dilemmata in „Elder Scrolls V: Skyrim“. Aber dort hatten die Entscheidungen wiederum keine wirklichen Auswirkungen. Verspieltes Potenzial.
„The Witcher III“ zwingt immer und immer wieder zu solchen Entscheidungen – manchmal sogar unter Zeitdruck – und gibt häufig keine Hinweise, was gut oder böse ist; geschweige denn, was diese Entscheidungen bewirken könnten. Ich habe sie alle nach bestem Wissen und Gewissen getroffen, habe versucht ein harter, aber gerechter Witcher zu sein. Immanuel Kant wäre stolz auf mich gewesen, hätte er miterlebt wie ich meinen Maximen folge und den rationalen Gründen mehr Gewicht gebe als der Emotion. Gemäß Utilitarismus (An den Folgen erkennt man die richtige Entscheidung.) und Hedonismus (Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht.) habe ich auf ganzer Linie versagt. Weil ich zu streng war, wie ich bei Recherchen zu möglichen Spiel-Enden erfahren habe. Weil ich mich zu sehr bemüht habe, das Richtige zu tun.
Mehr noch als in primär Entscheidungs-basierten Spielen wie „Life Is Strange“ zwingt „The Witcher“ trotz all der Monster und Dämonen zu Entscheidungen, wie sie auch das reale Leben fordert. Entscheidungen, die mich im Unwissen lassen, wohin das alles führen wird. Und letztendlich sind es oft die Kleinigkeiten, der beiläufige Umgang mit all den Charakteren die mir in vielen Spielstunden ans Herz gewachsen sind, die über den Ausgang entscheiden.
Unter Spiele-Kritikern kursiert häufig die Meinung, digitale Spiele stünden sich in ihrer Entwicklung zu einem ernst zu nehmenden Kulturmedium oft selbst im Weg. Dem stimme ich in vielen Aspekten zu und auch „The Wicher 3“ liebäugelt mit allerlei Stereotypen. Aber wenn ein Blockbuster-Titel zur Reflexion des eigenen Moral-Verständnisses anregt, beginnen Spiele auch in diesem Aspekt das Medium Film zu überholen.
"The Witcher 3" ist bereits erschienen.