Lost In Europe

Sie waren auf Lesbos, in Ungarn, Serbien und in halb Europa. Das Team von "Lost" will mit seinem Buch Flüchtlinge auf ihrem Weg in die EU abseits von schnellen Schlagzeilen zeigen.

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Das Team von "Lost" besteht aus 5 Leuten, die einen Sommer und Herbst lang die historische Fluchtbewegung nach Europa aus der Nähe aufgeschrieben und fotografiert haben. Sie haben mit den Menschen geredet und Schicksale eingefangen. Sie waren bei den Grenzschließungen dabei, durften in manche Lager, in andere nicht. Über all diese Erfahrungen haben sie uns ein Interview gegeben.

Die Erlöse des Buchs "Lost – The Story Of Refugees" gehen an die Caritas und sollen für Deutschkurse und Wohngemeinschaften verwendet werden. Das wird in Sachen Transparenz auch dokumentiert werden.

Einfachste Frage zuerst. Ihr habt Menschen vor, nach und während der Flucht begleitet. Denkt ihr nun anders als zuvor über Krieg, Flucht und Flüchtlinge?

Alles was man selbst zu Gesicht bekommt, ändert den Blick auf das Thema natürlich. Im Falle Krieg waren wir weder in Syrien noch in Afghanistan. Wir haben uns jedoch in der Theorie und in Gesprächen mit dem Leben in einem Kriegsgebiet befasst. Viel besser können wir uns jetzt vorstellen, was es heißt auf der Flucht zu sein. Unser Buch kann man sich als einen stillen Beobachter vorstellen. Wir haben mit Menschen in einem Maisfeld gehockt und Angst vor der ungarischen Polizei gehabt. Dann wieder drohte man uns in Serbien damit, eine Nacht im Gefängnis zu verbringen. Wir wissen wie kalt eine Nacht im November in Spielfeld sein kann. Und doch hatten wir am Ende zumindest ein Auto mit Heizung und Schlafsack. Wo wir zum letzten Punkt kommen: Nein, wir wissen noch immer nicht wie es sich anfühlt ein Flüchtling zu sein. Wir haben eine Wohnung, ein U-Bahn Ticket und einen Unionspass. Wenn wir über etwas anders denken, dann wie selbstverständlich wir all diese Dinge nehmen.

In eurem Buch „Lost“ porträtiert ihr flüchtende Menschen. Wie habt ihr die Personen für das Buch ausgewählt?

Wir haben niemanden ausgewählt, sondern waren längere Zeit an einem Ort. Dadurch kamen wir automatisch mit Flüchtlingen, Helfern, lokalen Bewohnern und Einsatzkräften in Kontakt. Aber auch mit Soldaten, Busfahrern und Totengräbern. Uns war es wichtig keine Interviews, sondern persönliche Gespräche zu führen.

War es einfach Menschen zu finden, die sich in eurem Buch porträtieren lassen?

Die Menschen sind uns mit Offenheit und Ehrlichkeit begegnet. Viele wollten ihre Erlebnisse mit uns teilen. Sie erzählten warum sie aus der Heimat geflüchtet sind und was sie am Weg bis hierher alles durchmachen mussten. Problematischer waren die Bilder. Wer von einer Terrormiliz flüchtet, will sein Gesicht nicht in den sozialen Medien sehen. Auch Konflikte mit den Behörden werden befürchtet. Ein Beispiel ist der 23-jährige Subhan, den wir in einem Lager in Petišovci in Slowenien getroffen haben. Er hat in Afghanistan als Polizist gearbeitet und wurde von den Taliban bedroht. In unserem Buch sind nur seine Hände abgebildet, die gerade eine Zigarette drehen.

Ihr sagt ihr berichtet anders als Massenmedien und Politik es tun. Was fehlt euch?

Oft wird das Bild einer bedrohlichen Masse erzeugt. Nehmen wir das Wort „Flüchtlingsflut“. Das klingt, als würde eine Umweltkatastrophe über uns hereinbrechen. Durch unsere Reportagen führt immer ein Protagonist oder eine Protagonistin, deren Geschichte sinnbildlich für Tausende steht. Wir recherchieren unabhängig und müssen keine Auflage erfüllen.

Uns fehlt es, dass Journalisten und Fotografen gemeinsam aufbrechen um eine Geschichte zu suchen, von der man noch nie so gehört hat. Uns fehlt es auch, dass Reporter wieder aktiv an etwas teilnehmen: die Flucht selbst, das Ausharren in Schlangen oder überfüllten Lagern oder die Suche nach einem Ort, wo man seine Hinterbliebenen beerdigen kann. Nur so versteht man Einflüsse wie Angst, Kälte, Trauer und Wut.

Es gab vereinzelt Meldungen, dass manche Flüchtlinge nicht dankbar mit gespendetem Essen, Kleidung etc. umgehen würden. Wie waren eure Erfahrungen?

Unserer Meinung nach hat das mit einem Organisationsproblem zu tun. Auf Lesbos kommen die Menschen unterversorgt an. Entlang der Westbalkanroute treffen sie dann immer häufiger auf Helfer. Da kann es schon einmal vorkommen, dass man einmal in Wien, dann in Salzburg und dann in Passau ein Sandwich und eine Wasserflasche bekommt. Die Gerüchte, dass Flüchtlinge Spenden bewusst wegwerfen, machen vor allem in den sozialen Medien die Runde. Wir haben uns einmal in Salzburg in ein Beisl gegenüber von einem Lager gesetzt, wo Menschen geschimpft haben, dass Paletten voller Flaschen in die Saalach geworfen wurden. Als wir dann später mit Freiwilligen im Lager darüber gesprochen haben, meinten sie, dass das nie vorkam.

In Ungarn wurden sie getreten, in Serbien war es noch schlimmer, an griechischen Stränden sind sie ertrunken, aber in Deutschland wurden sie mit Jubel empfangen. Ist das Bild zu einfach?

So einfach herunterzubrechen ist die ganze Situation wohl nicht. Allerdings hat Ungarn, mit Orban als Frontmann eine gewisse Position eingenommen und somit eine gewisse Vorreiterstellung eingenommen. Man braucht sich nur die aktuelle Lage in Polen vor Augen führen und wird schnell Parallelen zu Ungarn finden können. Deutschland hat in gewisser Weise eine Gegenposition vertreten. Allerdings wurde Merkel dafür schwer kritisiert und die Zahlen der Brandstiftungen in geplanten Flüchtlingsunterkünften ist drastisch gestiegen, ebenso die Teilnehmerzahlen bei AfD-Demonstrationen und Pegida-Kundgebungen. Die Route ändert sich konstant, genauso die Zustände an den einzelnen Abschnitten. Was sich nicht ändert ist, dass wöchentlich neue Tode beklagt werden müssen. Vielleicht ist es das, was uns in Erinnerung bleiben wird, wenn es auch jetzt nicht allen bewusst ist.

Wart ihr wirklich dabei, als der Grenzzaun in Ungarn errichtet wurde? In Kroatien? In Österreich?

Im Sommer haben wir das ungarische Militär beim Bau des Grenzzaunes zum Nachbarn Serbien begleitet. Damals war die Grenze noch nicht vollkommen abgeriegelt. Die Situation war abstrus: Die Soldaten haben Nato-Draht aufgezogen, während neben ihnen vereinzelt Grüppchen die Grenze passierten. Am 14. September wurde das letzte Stück Grenze zu Serbien geschlossen, einen Monat später, am 17. Oktober, zum Nachbarn Kroatien. Beide Male waren wir dabei, wobei die Situation bei der Grenzschließung zu Kroatien besonders prekär war. Es war kurz vor Mitternacht, als uns noch vereinzelte Grüppchen an der Grenze entgegenkamen. Sie mussten den letzten Kilometer durch zentimetertiefen Schlamm waten, um den Zug zu erreichen, der sie nach Österreich bringen sollte. Viele sind stecken geblieben oder haben ihre Schuhe verloren.

Wurde euch in die Lager, etwa Traiskirchen, Zutritt gewährt?

Nein, in Traiskirchen wurde uns wie so vielen kein Zutritt gewährt. In den Transitlagern im Ausland waren meist jene Camps ein Problem, die von offizieller Seite organisiert und geführt wurden. Im slowenischen Lager bei Rigonce wurden wir nicht eingelassen. Vereinzelte Freiwillige hatten es reingeschafft, wobei das Lager danach völlig abgeriegelt wurde, auch für die Presse.

In manche, wie ins „Niemandsland“ vor den Toren von Spielfeld, haben wir uns für eine Nacht eingeschlichen. Die slowenischen Einsatzkräfte waren sich offenbar selbst uneinig, ob es ein Akkreditierungsverfahren gibt oder nicht. Auch am Gelände von „Moria“, dem ersten offiziellen EU-Hotspot Griechenlands haben wir uns nicht wirklich wohl gefühlt. Wochen davor waren dort Fotografen festgenommen worden. Die Lage war sehr angespannt. Der Ort ist geprägt von Anarchie und Angst.

Habt ihr Gewalt unter den Flüchtlingen erlebt? Beschädigungen? Schlechte Behandlung von Frauen? Wenn ja, wie selten oder oft? Und wie erklärt ihr euch das?

Nach unseren Beobachtungen entstanden Reibereien zwischen Flüchtlingen immer dort, wo viele Hundert oder sogar Tausend Menschen mit ihren Fragen und Ängsten alleine gelassen werden. Nehmen wir erneut den Hotspot „Moria“: Dort gibt es keine Versorgung, keine anständigen Sanitäranlagen, nicht genügend Zelte oder Decken. Afghanen warten dort bis zu eine Woche auf ihre Registrierung. Manche glauben den Gerüchten im Lager, dass sie über ein Monat warten werden. An solchen Orten kann es immer wieder zu Prügeleien zwischen den Wartenden kommen. Wir haben aber auch Camps gesehen, wo es ein geregeltes System gab, wer wann an der Reihe ist. Freiwillige verteilten Tickets in verschiedenen Farben und erklärten den Ablauf. Die Menschen sind es gewohnt zu warten. Die Frage ist unter welchen Umständen sie es tun müssen.

Wie steht ihr zu den Reportagen der „Jungen Freiheit“?

Es ist ein News-Portal, das Informationen unserer Meinung nach genau so wenig eigenständig und objektiv überprüft wie die „Lügenpresse“, die deren Leser so vehement anprangern. Wir sind für Pressefreiheit. Eine Demokratie muss so ein Blatt aushalten. Aber wir brauchen eine aufgeklärte und kritische Öffentlichkeit, die Überschriften wie „Asylwerber randalieren und fordern mehr Geld“ mit Fakten und Blick auf die Realität in die Schranken weist. Vor allem im Internet.

Schaffen wir das?

Wenn mit „Wir“ die Gemeinschaft der Nationalstaaten gemeint ist, dann Nein. Wenn uns die letzten Monate etwas gezeigt haben, dann dass die Europäische Union sich an die Grundwerte ihrer Gründungsphase entsinnen sollte: Nämlich dass sie sich über die Jahrzehnte zu einem Solidaritäts- und Friedensprojekt entwickelt hat. Die Flüchtlingskrise hat ähnlich wie schon bei der Wirtschaftskrise den nationalstaatlichen Egoismus gestärkt. Nur dass es diesmal nicht um die Rettung maroder Banken, sondern um das Leben verzweifelter Menschen geht.

"Lost – The Story Of Refugees" wird am 17. Dezember um 19 Uhr in der Bildwerkstatt Leutner präsentiert (Facebook-Event hier). Zu sehen ist die Fotoausstellung bis 21.1. im Herr Leutner in Wien und von 12.2. bis 28.2. in der Tabakfabrik Linz.

i>www.refugeeslost.com

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