Auf Wiedersehen, Diagonale! Zum Schluss noch ein letzter Tagesrückblick feat. Ramses von Absolut HIV. Sonst: starre Perspektiven, seltsame Liebe und Kino, das sich einem seltenen Sehdefekt annähert.
Jetzt ist es schon wieder vorbei. Kein Gewusel mehr an den leuchtend roten Ticketschaltern, kein „Ich habe reserviert und will jetzt meine Karte, auch wenn die Reservierung schon verfallen ist“ von Akkreditierten, die sich selbst ein wenig zu wichtig nehmen. Aber nächstes Jahr kommt sicher bald und wir freuen uns jetzt schon wieder darauf. Bis dahin feiern wir die großen Gewinner. „Die Vaterlosen“ von Marie Kreutzer, der einigermaßen erwartete und auch verdiente Sieger in der Kategorie „Bester Spielfilm“. „Nachtschichten“ wird „Bester Dokumentarfilm“ und „Schwarzkopf“ zum Liebling des Publikums erkoren.
Aber das wissen wir ja schon alles. Im letzten Beitrag zur Diagonale 2011 geht es darum nicht um die Sieger, sondern um einen Rückblick auf das, was unmittelbar vor der feierlichen (und einmal mehr Pia Hierzeggers Moderation sei Dank nicht zu abgehobenen) Preisverleihung stattgefunden hat: zwei sehr interessante Kurzfilmprogramme.
Groll über „Groll“
Beginnen wir mit dem Kurzspielfilmprogramm: darunter auch Nikolaus Müllers Beitrag „Groll“, der aus mehreren Gründen etwas bedenklich ist. Der Film handelt von dem aggressiven, gesellschaftsunfähigen Erol, der im Laufe der Zeit eine Männerfreundschaft zu seinem ebenso sozial abgeschnittenen Arbeitskollegen Marc aufbaut. Das Ganze schließt mit einem Happy End, abgesehen davon, dass eine Frau, die permanent und ganz beiläufig von Erol misshandelt und schließlich von ihm entführt wird, bis zuletzt verschwunden bleibt. Das erzeugt teils Verstörung und Ärger im Publikum, die der anwesende Regisseur hinterher gleich zu spüren bekommt.
Ebenfalls anwesend ist Ramses, der den Erol spielt. Ramses, wer war das noch einmal? Achja, der eine von der Rapper-Formation „Absolut HIV“, bekannt für ihre homophoben Textzeilen, die Ramses in jener Club2-Sendung rechtzufertigen versuchte. Und von den „Willi Stift Ghetto Boyz“ aus Tulln auch schon nett gedisst worden ist.
Für meinen Geschmack jedenfalls hat der Hauptdarsteller zu wenig Distanz zu Erol, als dass der Film, der dem Zuseher die Figur begreiflich oder gar sympathisch zu machen versucht, wirklich funktionieren könnte. Ein Film mit dokumentarischen Einflüssen, der das Thema Homophobie direkt anspricht, hätte in diesem Fall besser gepasst als ein Spielfilm, der sicherheitshalber einen Bogen drum herum macht.
Etwas Lustiges hat die Sache aber doch. Nämlich, dass man aus der Interaktion zwischen Erol und Marc auch eine unterschwellige homosexuelle Beziehung deuten könnte, was dem Darsteller Ramses vermutlich nicht aufgefallen ist.
Das starre Auge
Der Regisseur des Kurzfilms, der davor gespielt wurde, ist hingegen leider nicht anwesend. Schade, ist es doch spannend mitzuverfolgen, wie „Xiao Baobei – Little Precious“ von Yilin aka Chen Bo funktioniert. Der Film zeigt den in Peking lebenden Xiao Bao. Beim Eis verkaufen. Beim Tanzen in der Disco. Beim Streit mit der Schwägerin. Durch seine besonders stringente Erzählweise erzeugt der Film eine enorme Intensität. Wichtig dabei ist, dass die Kamera die ganze Zeit über starrer Beobachter bleibt – unbewegt, ohne Fahrten oder Schwenks. Die meisten Szenen werden aus jeweils genau einer Perspektive gezeigt, kommen ohne Gegenschussverfahren aus. Die jeweiligen Szenen sind durch Schwarzblenden voneinander isoliert. Zusammengesetzt ergeben sie dennoch, oder gerade deswegen, ein klares Gesamtbild, das Leben von Xiao Bao. Ohne Schnörksel. Genau diese Erzählweise macht „Xiao Baobei – Little Precious“ zu einem ungewöhnlichen Werk. Ein Kurzfilmhöhepunkt auf dem Festival!
Kubrick, NASA, Achromatopsie
Auch das folgende Experimentalfilmprogramm birgt Spannendes. Richard Wilhelmer, der mit „Adam’s Ende“ auch im Spielfilmprogramm vertreten ist, stellt hier gleich zwei experimentelle Filme vor. Einer davon ist der fünfminütige Augenschmaus „Strange Love“. Unzählige Jagdflieger zerbomben die schwarzweiße Landschaft, auf der sich ihre bedrohlichen Schatten abzeichnen. Und zwischen den Explosionen liegt ein Paar in der Wiese und liebt sich leidenschaftlich. „I love you like I love the bomb!“ Vergnügt streift der Film Kubricks Klassiker und präsentiert sich dabei imposant und surreal – in aller Kürze.
Auch sonst kann das Programm überzeugen, das liegt vor allem auch an den außergewöhnlich spannenden Publikumsgesprächen. Mit ihrem Schwarzweiß-Experiment „The Achromatic Island“ versucht Sofie Thorsen der seltenen Sehkrankheit Achromatopsie nachzuempfinden. Dass das nur teilweise gelingen kann, ist selbstverständlich und wird im Anschluss auch bestätigt – denn tatsächlich sitzen Betroffene im Publikum. Es entsteht ein interessantes Gespräch, das Personen mit uneingeschränktem Sehvermögen klarerweise nur sehr vage nachvollziehen können.
In „Endeavour“ erklärt Filmemacher Johann Lurf schließlich, wie relativ einfach man eigentlich an Filmmaterial der NASA kommt. Insgesamt bleibt dieses Programm in seiner Gesamtheit das Inspirierendste, was die Diagonale 2011 zu bieten hat.
Und so geht das Festival zu Ende und macht Lust auf mehr. Auf Wiedersehen!