Mit Blumfeld hat Jochen Distelmeyer ein Kapitel deutscher Musikgeschichte geschrieben. Nach dem Aus seiner Band meldet er sich nun als Solokünstler zurück.
Nicht weniger als "eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart" hat sich Jochen Distelmeyer in 17 Jahren Blumfeld erdacht, ertextet, erspielt. Auch Skeptiker kommen nicht umhin zuzugeben, dass »L’etat et moi«, dieser Monolith von einer Platte in der Diskografie der Band, eines der wichtigsten deutschsprachigen Alben der letzten 20 Jahre war. "L’etat et moi" war 1994 einer der Grundsteine dessen, was kurze Zeit als Diskurs – Pop die Intellektualisierung von Pop nicht bloß seitens der Kritiker, auch seitens der Protagonisten, also der Bands und Songschreiber vorantrieb. "L’etat et moi" war eine Referenzhölle, die mit Versatzstücken von Soziologie, Politik, Wirtschaft, Literatur, Popkultur und viel mehr arbeitete, diese neu zusammensetzte und verhandelte. Und "L’etat et moi" war nicht zuletzt eine geile Rock – Platte.
Dass mit dem nicht minder großartigen "Old Nobody" viereinhalb Jahre später ganz andere Töne angeschlagen wurden, haben manche bis heute nicht verkraftet. Und dass die Tonträger danach, zuletzt "Verbotene Früchte", von manchen mitunter gar als Schlager abgetan wurden, obwohl Distelmeyers Standpunkte als Texter, mit Ausnahme der Entdeckung der Liebe, bei aller Vereinfachung der Sprache und Glättung der Musik nahezu unverändert blieben, sprechen für eine Band, die weiter, weiter, weiter geht.
Vor zwei Jahren gab Jochen Distelmeyer für viele überraschend die Auflösung Blumfelds bekannt. "Heavy" heißt nun sein Solodebüt, und schon nach dem a cappella gesungenen Eröffnungssong "Regen" macht es seinem Titel mit den Stücken "Wohin mit dem Hass?", "Er" und allerlei Feedback und schleppenden Drums alle Ehre – nur um mit "Lass uns Liebe sein" wieder glitzernden Pop in bester Prefab – Sprout – Tradition aufzufahren. Ein ständiges Hin und Her, ein Zickzackkurs, der dennoch ein stimmiges Ganzes und, so nebenbei, ein wunderbares Album zu Tage fördert.Man kann die Songs auf "Heavy" in zwei Gruppen teilen: Auf der einen Seite, sagen wir: Liebeslieder, die poppigeren Songs, auf der anderen Seite die härteren Rocker. Das sind naturgemäß sehr unterschiedlich klingende Sachen, die letztlich aber doch ein schlüssiges Ganzes ergeben.Ich finde das ist auch durch den Titel des Albums ganz gut dargestellt. Denn auch die augenscheinlich softeren Stücke sind auf ihre Art ziemlich heavy. Eben worum es in diesen Songs geht. Das passt auf alle Stücke des Albums: Das Leichte als auch das Schwere.
Du besingst gerade in den, wie du sagst, softeren Stücken verschiedene Stadien der Liebe: von der Verliebtheit über Trennung und eine Rückkehr, die aussichtslos scheint, bis hin zum letzten Song, in dem der Protagonist mit sich selbst im Reinen ist. Das wirkt wie ein Zyklus – war das beabsichtigt?Nein, das war nicht beabsichtigt. Die Stücke sind einfach so entstanden, ich hatte da keinen Plan, keine übergeordnete Idee. Ich habe aber schon während des Entstehungsprozesses ein Gespür dafür gehabt, dass das ein Album ist, auch wenn die Reihenfolge der Songs in dem Maße noch nicht vollständig klar oder entschieden war. Es war eben nicht geplant; es ist passiert.
Da stellt sich natürlich die Frage, inwieweit das lyrische Ich mit dem realen Ich zusammen geht.Das bin ich. Aber das bin ich immer schon gewesen. Ich bin immer schon meine Songs gewesen – meine Songs sind immer schon ich gewesen. Das heißt nicht, dass der Zeitbezug ein total aktueller sein muss. Ich habe mich in den Songs mit Sachen beschäftigt, die mich auf eine Art immer schon bewegt haben, mit Gefühlslagen, die mir vertraut sind.
Im Laufe der Jahre ist deine Sprache immer klarer geworden, dadurch wird das Ich angreifbarer, es wird mehr herausgestellt.Ich weiß nicht, warum man das Ich angreifen sollte. Ich geh nicht davon aus, wenn ich Songs schreibe, dass mich irgendjemand angreifen will. Das ist mir egal. Ich schreibe Songs, ich mache Musik, weil mir das etwas bedeutet, weil es mir Spaß und mich glücklich macht. Weil ich damit ausdrücken kann, was mich bewegt, beschäftigt, berührt. Seit ich Platten veröffentliche, bin ich – neben der Anerkennung, die ich bekommen habe – das Ziel von Angriffen und vehementer Kritik gewesen. Das war aber immer auch eine Form von Anerkennung, weil sich die Leute offensichtlich so oder so damit auseinandergesetzt und das, was ich gemacht habe, zur Kenntnis genommen haben. Dafür bin ich erst mal grundsätzlich dankbar. Das ist ja nicht normal. Das ist schon etwas Besonderes.
Damit wären wir ja bei "Wohin mit dem Hass?". Da stellst du dich zunächst als Projektionsfläche für den Hass zur Verfügung, um am Schluss die "Angreifer" mit ihrem Hass alleine zu lassen.Ja, das tu ich. Ich frage mich selbst: Wohin damit, mit dem, was in der Luft liegt, das ich selbst auch spüre und kenne? Ich frage mich, wo das herkommt, wohin das führt, welche Art Umgang ich damit wähle und stelle mich dann zur Verfügung, in den Dienst, habe kein Problem damit, zu versuchen, das in etwas anderes zu verwandeln, in etwas weniger Zerstörerisches, in etwas Schönes. Hass selbst kann ja auch etwas Schönes sein, in seiner Intensität, aber es ist eben etwas Zerstörerisches, etwas, das sich nach innen frisst. (überlegt) Entschuldigung, das muss ich zurücknehmen: Hass ist nichts Schönes.
In dem Song gibt es auch die Textzeile "Kennst du die Reichen und Mächtigen, lass ihre Wagen brennen." Beim Recherchieren habe ich von Gerüchten gelesen, dass das Album deswegen auf dem Index landen könnte. Hast du davon auch gehört?Nein, davon habe ich nichts gehört.
Wenn dem so sein sollte, wie wäre das für dich?Das wäre ärgerlich. (lacht) Ich möchte natürlich, dass das Album von den Leuten gehört wird. Ich könnte das nicht nachvollziehen, weil ich das nicht als Aufruf verstehe. Ich untersuche in dem Song, inwieweit so etwas zur Bewältigung oder zum Umgang mit diesen Gefühlen taugt. Nach meiner Auffassung mache ich in dem Song klar, dass das kein Mittel ist, mit dem man dieses Hassgefühl überwinden könnte. Sondern es wuchert und wächst weiter. Das heißt nicht, dass dieser Ausdruck von Gewalt nicht zumindest ein historisch probates oder geläufiges Mittel zum Ausdruck von Empörung und Kritik oder zur Wahrung und zum Aufmerksam-Machen auf andere Interessen wäre. Das gibt es ja nicht erst seit gestern, selbst zu Zeiten als es keine Autos waren. Aber ich heiße das nicht gut, ich sage nicht: Zündet die Autos an, ich sage: Lasst sie brennen.
Die Gangart der Musik bei Songs wie "Womit mit dem Hass?", "Er", "Hinter der Musik" oder "Hiob" ist wieder etwas heftiger, um nicht zu sagen heavier geworden als zuletzt bei Blumfeld. Ist da die Lust am Lärm zurückgekehrt?Klar. Das hat für mich mit zwei Stücken angefangen, mit "Wohin mit dem Hass?" und einem Lied namens "Einfach so", das jetzt nicht auf dem Album ist, aber sehr wichtig für das Album war. Mir ging es speziell bei "Einfach so" und auslaufend in die anderen etwas härteren Stücke um primitive Musik für primitive Verhältnisse, um "Rock for Rock", um ein Weiterspielen einer schamanistischen Vorstellung von Rock, die so nicht mehr gespielt wird.
Meinst du mit "schamanistischem Rock" so etwas wie Katharsis?Katharsis, weiß ich nicht, schon schamanistisch, im Sinne von Trance, Indianer-Tänze, Derwische.
Was die herrschenden Verhältnisse betrifft, fällt bei einigen alten Blumfeld – Stücken auf, dass du fast schon prophetisch an die Sache herangegangen bist. Siehst du das auch so, dass die Songs von der aktuellen Entwicklung quasi eingeholt werden?Das kommt jetzt auf die Stücke an, ich würde das aber auch sagen. Zum Beispiel "In der Wirklichkeit" (aus dem Album "Jenseits von Jedem", 2001, Anm.): Zu dem Zeitpunkt waren bestimmte Sachen schon abzusehen, es lag in der Luft. Der Zusammenhang von einstürzenden Luftschlössern und zerplatzenden Spekulationsblasen wird ja schon in diesem Song angedeutet. Wobei das Ausmaß dieser Traumatisierung durch diesen hasserfüllten, mörderischen Terrorakt am 11. September in diesem Sinne nicht abzusehen war.
Jochen Distelmeyer"Heavy"Label: Columbia RecordsRelease: 25. September 2009