So schön kann Melancholie sein: Poetisch-pathetisches Liedgut für Teenager über 30.
Es ist schwer, anders zu klingen, wenn eine Band das Stadium erreicht hat, in dem sie zur Referenz für sich selbst wird: Seit ihrem Debüt “Don‘t Fall In Love With Everyone You See“ gelten Okkervil River als stilsichere Nachlassverwalter von südlich des Mississippi angesiedelten, melancholischem Americana-Folk. Mit ihrem mittlerweile sechsten Album “I Am Very Far“ versuchen die melodieseligen Texaner allerdings, die eingetretenen Pfade zu verlassen und ihren Sound in Richtung britische Musiktradition zu manövrieren.
Chronologisch gehört, enttäuscht das Album zuallererst mit einem ziemlich belanglosen ersten Viertel: Die Stücke “The Valley“, “Piratess“ und “Rider“ passen so gar nicht zum restlichen Flair der Platte und hätten besser in anderer Art und Weise veröffentlicht werden sollen. Man fragt sich, wieso stattdessen nicht die wunderhübsche 12“-Vorab-Single “Mermaid“ in die Songauswahl mit aufgenommen wurde. Den schwachen Einstieg und die fehlende Single außer acht gelassen, beginnt mit dem vierten Track “Lay Of The Last Survivor“ die lichte Seite des Albums. "Well it‘s over, just let my hand go" singt Frontmann Will Sheff in dem ganz und gar großartigen Lied, das für sich allein stehend zehn Punkte verdient hätte. Die poetisch und charismatisch vorgetragenen Verse voller Melancholie und unprätentiösen Pathos werden begleitet von schüchternen Streichern und einem energetisch-vereinnahmenden Gitarrenspiel, auf das auch Smiths-Gitarrist Johnny Marr hätte stolz sein können.
Überhaupt sind die Smiths-Referenzen fortan beklemmend authentisch: Auf Stücken wie “We Need A Myth“, “Wake And Be Fine“ oder “Hanging From A Hit“ klingt die Stimme von Sänger und Songschreiber Will Sheff, der hier erstmals auch als Produzent in Erscheinung tritt, so verführerisch wie Morrissey in seinen besten Jahren. Sheff plagiiert dabei aber nicht, sondern zaubert mit “I Am Very Far“ ein ernstzunehmendes Melodram, ein Stück Pubertät für den Teenager jenseits der 30. Pathos und Glamour treffen aufeinander und verschmelzen mancherorts zu bezaubernder, eindringlicher Popmusik. “I Am Very Far“ ist ein Album mit vielen sehr guten und einigen sehr schlechten Songs: In Auszügen überaus empfehlenswert, als Gesamtkomposition aber nicht fließend genug, um wirklich zu bestechen.