Autor und Musiker Elias Hirschl begibt sich gemeinsam mit dem Musiker Jimmy Brainless auf eine literarische und musikalische Asientour. Was dort passiert, erzählen sie in ihrem Blog. Hier der fünfte Eintrag: Über den Circle of Fun, fehlende Messer und noch mehr Verkehr.
1. Mai bis 3. Mai 2017
Natürlich hatten wir Angst vor Manila. Eine fiktive Statistik besagt, dass jeder zweite Einwohner in Manila sich davor fürchtet, überfallen zu werden und tatsächlich jeder Einwohner schon einmal in einen Überfall als Überfallender beteiligt war. Sowas muss man natürlich mal verdauen. Wer sich sowas ausdenkt. Nichtsdestotrotz sind wir auf der Hut, ahnen hinter jeder Bewegung den Ansatz eines Überfalls, malen uns im Taxi insgeheim schon unsere Entführung aus und nachts, nachts bleibt immer einer von uns wach und hält Wache, damit wir nicht wehrlos sind, wenn uns einer holen will.
Auf dem Weg zu unserer Unterkunft sind wir am Quezon Memorial Circle vorbeigefahren – ein absurd-großer Kreisverkehr mit einer absurd-großen Verkehrsinsel zu der es offenbar keinen Zugang gibt, da ungefähr acht Fahrbahnen das Überqueren zu einem beinahe garantiert tödlichem Unterfangen machen. Dennoch haben es in den letzten Jahren doch einige Menschen (man nennt sie „the others“) geschafft, auf diese Insel zu gelangen und haben dort eine autark lebende Gemeinde gegründet. Sie wohnen in kleinen Zelten, die sie aus vorbeiwehenden Zigarettenstummeln und Plastiksackerln bauen und haben über 108 verschiedene Begriffe für die Intensivität des Verkehrs entwickelt. Angeblich können sie zwischen 23 verschiedenen Arten von Autos unterscheiden. Es ist über die Jahre innerhalb dieser Gemeinde ein seltsamer Kult namens „Circle of Fun“ entstanden. Achtmal wöchentlich laufen die Inselbewohner bei Verkehrsstoßzeiten solange am „Ufer“ ihrer Insel im Kreis, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen und vermutlich wegen den dabei inhalierten Autoabgasen Visionen empfangen. In diesen Offenbarungen verkündet meist die Circle-Gottheit, man nennt sie auch das „smog-monster“ (merke: smog-monster, nicht smoke-monster), ob die nächsten Menschen, die auf der Insel stranden, zum Verzehr gedacht sind oder als neue Mitglieder gewertet werden sollen. Das klingt vielleicht alles ein wenig kannibalisch, doch abgesehen vom überlebensnotwendigen Genießen von Menschenfleisch kann die Verkehrsinsel auf den ganzen Philippinen mit der niedrigsten Straffälligkeit beeindrucken. Da kann sich Manila ruhig eine Scheibe von abschneiden. Yummy!
Apropos Essen: Zuhause beim deutschen Musiklehrer gibt’s leckeres Essen: Spargel in Speck und Hühnerfleisch gewickelt, Tsatsiki, Rotkraut und frittierte Kartoffelscheiben. Typisch philippinisch eben. Während wir zwischen Gabel und Löffel noch das uns so gewohnte Messer suchen, beginnen die anderen am Tisch zu essen, schneiden sich in vorbildlicher Wirkung mit dem Löffel vom Fleisch ab. Wegen der hohen Anzahl an Messerstechereien in Restaurants gibt es auf den Philippinen keine Messer als Bestandteil des Essbestecks. Stattdessen wird alles so weich gekocht, dass man es mit dem Löffel „schneiden“ kann. Möchte man also jemanden in einer dunklen Gasse überfallen, bleibt einem nur ein Löffel als äquivalenter Ersatz, mit dem man sein Opfer langsam aber sicher ins Jenseits klopft – again and again and again.
Ralph, unsere einzige Vertrauensperson und gleichzeitig der Musiklehrer der deutschen Schule Manila, nimmt sich unser an. Er fährt mit uns im Jeepney (das waren ursprünglich Willys-Jeeps, die die Amerikaner auf den Philippinen zurückgelassen haben und die von den Einheimischen zu Kleinbussen gepimpt worden sind – jop, Xzibit war definitiv nicht der erste mit so einer krassen Idee) in eine Mall, die einem furchtbar reichen Chinesen gehört. Um das Einkaufscenter herum stehen auch mehrere seiner 42 Stockwerke-Gebäude, die ausschließlich aus Einzimmerwohnungen bestehen und in denen er die Menschen, konventioneller Schweinehaltung nicht unähnlich, eng an eng aneinander hausen lässt. Eine Bank besitzt er auch. Er ist ein bisschen wie der Charles Widmore von Manila.
Am darauffolgenden Abend sind wir in einer kleinen Lehrerrunde der Deutschen Schule Manila beim Fischmarkt zum Essen eingeladen. Hübsch herausgeputzte Frauen bewerben die Meeresfrüchte an Ständen, Transvestiten versuchen einen anschließend in die Restaurants zu locken, in welchem das eben Gekaufte wunschgemäß zubereitet wird. Lecker ist es. Mein taiwanesisches Feinschmecker-Herz tut’s genießen.
Einzig nervig in Manila ist die Tatsache, dass wenn man sich mal in ein Auto setzt, man garantiert damit rechnen kann, nicht innerhalb der nächsten Stunde wieder auszusteigen. Der Straßenverkehr ist zu Stoßzeiten echt ein Wahnsinn. Oft braucht man schlichtweg das dreifache der Zeit, die man normalerweise für eine Strecke benötigen würde. Wir fragen uns, wie wir es jemals rechtzeitig von unserem Auftritt am nächsten Tag zum Flughafen schaffen sollen, ohne den Flug zu verpassen. Es will uns niemand so recht beruhigen, darum werden wir panisch, insgeheim.
Nach einer sehr kurzen Nacht stehen wir in der Deutschen Schule Manila und halten ein Workshop. Im Brainstorming für einen Liedtext kommt heraus, dass die Schüler sich vor allem die Begriffe „Verlust“, „Tod“ und „Depression“ als thematische Grundlage wünschen. Wir kriegen es gerade noch hin, dass der Text, der dabei entsteht, nicht wie ein Plagiat von Brian Molko’s Songwriting-Repertoire wirkt.
Wir beenden unseren Auftritt an der Schule früher als geplant, zu sehr stresst uns der Gedanke, dass wir auf dem Weg zum Flughafen im Stau verloren gehen könnten – hysterisch bitten wir Ralph, uns doch schnellst möglichst dahinzufahren, damit wir ja nicht unseren Flug verpassen – Ralph, der gute Ralph, ist sehr geduldig und spielt das Spiel mit. Wir sind acht Stunden vor unserem Abflug am Flughafen. Um die Wartezeit totzuschlagen, beginnen wir unsere restlichen Pesos auszugeben, umgerechnet 16€ haben wir noch. Nach mehreren Bier, Chips, einem Tuna-Sandwich, einer Packung Nüsse, einer Massage, einem Tattoo, einem Gelsenspray, Polvoron, jede Menge Polvoron und einer Goldkette bleiben noch umgerechnet 15€ übrig. Es ist einfach unmöglich hier effektiv Geld auszugeben.
Abschließend kann man wirklich nur sagen, dass wir tatsächlich sehr froh sind, dass wir es geschafft haben, Manila wieder zu verlassen, ohne ausgeraubt geworden zu sein. Echt froh. Heilfroh. Naja okay. Ein wenig bedauerlich finde ich es schon, dass uns niemand auf der Straße mit einem Löffel bedroht hat. Das wäre sicherlich witzig gewesen. Aber wer weiß, vielleicht wären wir schließlich auch diejenigen gewesen, die den Löffel dabei abgegeben hätten. Wer weiß.
PS: Wer auf MILFs steht, kann übrigens seinen Fetisch auf den südlichen Philippinen auf die harte Tour ausleben. Dort ist nämlich die radikalislamistische Bewegung Moro Islamic Liberation Front vorzufinden. Wollte ich nur erwähnt haben, no pun intended.