Alain Platels Tanz über menschliche Abgründe

Was passiert, wenn tradierte Werte keinen Halt mehr geben und widrigste Umstände zu einem sozialen Kollaps führen? Damit beschäftigt sich das neue Werk „Nicht Schlafen“ von Alain Platel und lädt ein zu einem Tanz auf Leben und Tod.

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© Chris Van der Burght

Zu den Klängen von Kuhglocken und Trommelschlägen fallen sehnige und ausgezehrt wirkende TänzerInnen übereinander her. Sie schwitzen, stöhnen, rülpsen, im Hintergrund liegt ein aufgedunsener Pferdekadaver. Ein Tänzer wird fortgeschleppt und gehäutet, trägt aber immer noch genug Leben in sich, um den Tierkadaver zu begatten.
So läuft das bei Alain Platel – „Nicht Schlafen“ lotet die Grenzen des Erträglichen aus, ist abstoßend und faszinierend zugleich und inszeniert die Lust – inmitten von Chaos und Verderben.

Taumeln vor der Katastrophe

Die Performance von Platels Tanzkollektivs Ballets C de la B vereint Extreme in seiner Choreografie „Nicht Schlafen“ und ist eine Art Gedankenexperiment über den menschlichen Ausnahmezustand. Der Mensch, ein soziales Wesen, das ein Leben in der Gemeinschaft sucht, wirkt in seiner Choreografie wie ein Tier, ein Spielball der Emotionen. Bei dieser Produktion ist Platel Choreograf, Historiker und Psychologe zugleich.
Er erzählt und analysiert die Wirkung von Erregtheit, Chaos und Unsicherheit auf die menschliche Seele. Ein Ausgangspunkt und Beleg seines Zugangs sind historische Zeugnisse und literarische Werke, die sich mit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg befassen. Als eine Inspiration soll ihm „Der taumelnde Kontinent“ von Philip Blom gedient haben, eine kulturgeschichtliche Betrachtung der sogenannten Belle Epoque.

„Nicht Schlafen“ © Chris Van der Burght

Korrespondenz zwischen Theater, Bild und Musik

Alain Platel, der aus dem belgischen Gent stammt, war vor seiner Tätigkeit als Choreograf und Theaterregisseur, ausgebildeter Heilpädagoge. Er besuchte bereits in jungen Jahren eine Schauspielschule und wechselte später auf eine Balletschule, wo er seine ersten Choreografien schuf. 1984 gründete er das Tanzkollektiv les ballets C de la B, das sich dem zeitgenössischem Tanz widmet und inzwischen international rennommiert ist. In seinem persönlichen Stil vermischt er Elemente des Tanzes, Theaters, der Musik und des Zirkus und beschäftigt in seinen Stücken neben ausgebildeten Künstlern auch Laien.

Begleitet werden die verschiedenen Stadien der Exzesse von Gustav Mahlers Musik, der für einige bedeutende Reformen des Musiktheaters verantwortlich ist. Er komponierte frei nach dem Motto, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik, eine Welt“ aufzubauen – ein Konzept, das der Komponist Steven Prengel für „Nicht Schlafen“ mit der Hilfe von Sampling fortsetzt. Das Ergebnis ist ein akustischer Teppich – unter anderem aus Geräuschen der Künstler, aber eben auch den eingangs erwähnten Kuhglocken.

Für das Bühnenbild verantwortlich ist die Künstlerin Berline De Bruckyere, die mit ihren Installationen und Zeichnungen einen höchst eigenwilligen Stil entwickelt hat. Aufgebart auf einer Holzpalette liegen Pferdekadaver und erinnern unwillkürlich an das Werk des Künstlers Cerný. Generell beschäftigt sich die Künstlerin in ihren Werken mit der Verletzlichkeit von Mensch und Natur. Insofern unterstreichen De Bruckyeres Installationen das höchst sehenswerte Verderben auf der Bühne, die Kadaver fungieren wie ein Memento Mori, ein Hinweis auf die Vergänglichkeit des Lebens.

Platels „Nicht Schlafen“ wird am 19. 01 und 20.01 um 19:30 im Volkstheater gezeigt und eröffnet das dreimonatiges Festival Spring! Europe des Tanzquartiers Wien. Es handelt sich um eine österreichische Erstaufführung.

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