»Ja, was für ’ne Stadt denn?« – Andreas Dorau im Interview zu »Wien«, seinem neuen Album

Wusstet ihr, dass es mindestens 3.000 Lieder über Wien gibt? Kaum eine andere Stadt ist so oft besungen worden wie diese. Und »Wien« lautet auch der Titel des neuen Albums von Andreas Dorau, über das er im Interview mit uns gesprochen hat.

© Tapete Records

Wien klingt für mich nach Falco – und Falco nach Wien. Von Anfang an war er durch und durch verwoben mit dieser Stadt. Sein Bild von Wien war eine Liebeserklärung, die aber auch von Kritik durchsetzt war. Man denke nur an seine Lieder aus den 80ern wie etwa »Vienna Calling« oder »Wiener Blut«. In der gleichen Dekade haben auch Ultravox die österreichische Hauptstadt besungen. In ihrem legendären New-Romantic-Hit »Vienna« geht es aber eigentlich nicht um Wien als Stadt, sondern um eine Liebesaffäre ebendort. Auch die französische Popikone Mylène Farmer hat Ende der 80er-Jahre mit tiefer Melancholie über Wien gesungen (»Jardin de Vienne«). Aber nur vermeintlich: Ihr Text ist poetisch und naiv zugleich und erzählt die traurige Geschichte eines französischen Jungen, der sich in einem Wiener Garten erhängt. In den 1990er-Jahren trug dann unter anderem das DJ-Duo Kruder & Dorfmeister zur Wiener Clubszene bei und brachte den »Wiener Sound« in die ganze Welt.

Und jetzt kommt ein deutscher Musiker aus der Hansestadt Hamburg, der schon über seine unmittelbare Umgebung an der Nordsee gesungen hat, und veröffentlicht eine Platte, die komplett der österreichischen Bundeshauptstadt gewidmet ist. Wie ist Andreas Dorau auf die Idee gekommen, Lieder über Wien zu schreiben und zu singen? Was denkt er als echter Hamburger über die Kaiserstadt? Welche Erinnerungen verbindet er mit Wien? Diese und weitere Fragen beantwortet der ewig junge Musiker im Interview.

Andreas Dorau (Bild: Sönke Held)

Für mich als Ungar, der mehr als 15 Jahre auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verbracht hat, ist meine erste Erinnerung an Wien eine eintägige Busreise mit meinen Eltern kurz vor dem Zusammenbruch des alten politischen Systems. Alles, was ich mir damals wünschte, war ein Doppelkassettenrekorder, den mir meine Eltern schließlich in einem Geschäft in der Mariahilfer Straße kauften. Ich erinnere mich auch daran, wie ich mir an einem Wiener Zeitungsstand eine westliche bunte Jugend- beziehungsweise Popzeitschrift kaufte, die es in Ungarn damals noch kaum gab. Und daran, wie völlig anders das – auf der Busfahrt nach Hause konsumierte – Dosengetränk schmeckte. Was sind deine ersten Erinnerungen an Wien? Wann bist du zum ersten Mal hierhergekommen?

Andreas Dorau: Meine erste Erinnerung an Wien sind die Lipizzaner. Ich hatte recht alte Eltern, die immer noch so klassisch Italienurlaub machten. Und man musste immer einen Zwischenstopp machen, das war dann entweder Salzburg oder Wien. Und in Wien – das weiß ich aus meiner Kindheitserinnerung – guckten wir uns die Lipizzaner an. Das machte großen Eindruck auf mich.

Schon letzten August meintest du, dass Wien das Hauptthema deines nächsten Albums sein würde. Wie kam es zu dieser Idee, die von Hamburg am weitesten entfernte deutschsprachige Großstadt in Songs zu verewigen?

Zur Idee des Albums gibt es verschiedene Zugänge. Zum einen saß ich mal mit Freund*innen zusammen – es war nachmittags, also keine Schnapsidee – und die jammerten rum, dass sie für ihr Album keine Presse kriegen. Da sagte ich: »Ja, Journalist*innen, die gerne über euch schreiben würden, müssen an der Chefredaktion vorbei, und weil ihr nicht viele Platten verkauft, muss da irgendwie eine Story her. Guckt doch mal, ob ihr nicht eine Platte mit einem Thema machen wollt.« Und dann fragten die mich: »Ja, was für ein Thema denn?« Und dann sagte ich: »Ja, ’ne Stadt.« Und sie meinten: »Das klingt gut. Ja, was für ’ne Stadt denn?« »Wien!«, sagte ich ohne groß nachzudenken – und die Idee klaute ich ihnen dann.

Auf »45 Lux«, der ersten Single aus deinem neuen Album, werden die Laternen in den Straßen und Gassen Wiens besungen. Magst du diese Abendspaziergänge, wenn man frische Luft schnappt und die Stadt auf sich wirken lässt? Haben diese kleine Runden durch Wien, wenn die Dämmerung einsetzt, für dich eine besondere Stimmung?

Nein, ich bin eigentlich kein großer Spaziergänger. Bei all meinen Aufenthalten in Wien interessierte mich bloß das nächtliche Bild. Also für mich gibt es wenige Städte, in denen ich nachts die Lampen toll finde – das ist Düsseldorf und es ist eben Wien. Ich wollte eigentlich diese Laternenstimmung, dieses Lichtermeer besingen und überlegte, wie ich das denn machen könnte. Ich recherchierte, wann die Lampen überhaupt angehen, dachte, da gibt es bestimmt irgendein Amt, bei dem man anrufen kann und die einem das dann sagen. Aber dieses Amt gibt es nicht, sondern es ist eben ein Computer. Bei einer Helligkeit von 45 Lux abwärts werden die Lampen ohne Knopfdruck automatisch von diesem Computer eingeschaltet. Und das besinge ich.

Dunkelheit und Nacht hattest du auch schon früher als Themen. Auf deinem Album »Todesmelodien« gab es ein Lied über »Stimmen in der Nacht«. Was hat den Song »Ich kann nicht schlafen« inspiriert?

Für mich ist »Wien« auch ein Album über Reisen. Und ein Problem, das ich auf Reisen oder in fremden Städten habe, ist, dass ich in Hotelbetten meistens nicht einschlafen kann. Ja, das ist eine Quälerei und das wollte ich auch mal thematisieren.

Bleiben wir noch beim Thema Nacht. Wenn man sich mit seinen Problemen alleine fühlt, Fragen zum eigenen Leben hat und mit niemandem darüber sprechen kann, dann ist dieses überwältigende Gefühl nachts am schlimmsten. In diesen Fällen ist manchmal die Telefonseelsorge die einzige Lösung. Vielleicht war deshalb in Ungarn in den 80er-Jahren eine Radiosendung über private Probleme so erfolgreich. Der ehemalige Moderator dieser Call-in-Show erzählte kürzlich in einem Podcast, wie er im Nachhinein erfuhr, dass es ihm nicht gelungen war, einen Anrufer von seinem geplanten Selbstmord abzubringen. Tritt der in einen Dancebeat gehüllte, aber von immer häufiger auftretenden persönlichen Problemen handelnde Song »431 42« in die Fußstapfen von »Girls in Love«?

Nein, ich glaube nicht, dass das Stück irgendwas mit »Girls in Love« zu tun hat, obwohl es dort ja auch um einen Selbstmord geht. Hier weiß ich gar nicht, ob die Person, die ich da besinge, droht, Selbstmord zu begehen. Eigentlich gab es zwei Ausgangspunkte: Zum einen wollte ich immer schon mal einen Refrain machen, der nur aus Zahlen besteht. Und zum anderen ist Wien für mich auch immer irgendwie eine schwermütige Stadt, in der es schwermütige Menschen gibt. Das kombinierte ich dann, weil die Telefonnummer der Telefonseelsorge auch so einen schönen Klang hat. Außerdem hat sie ja in Wien den tollen Spitznamen »Kummernummer«. So entstand das Stück.

Wir sprechen in der Familie oft darüber, wie sehr wir die Nähe zum Meer vermissen. Es gibt zwar in Wien eine Vielzahl an Lokalen und Bars an der Donau beziehungsweise auf der Donauinsel – sogar mit weitläufigem Sandstrand –, aber der Sommer ohne Meer ist nicht dasselbe. Wie würde Wien wohl aussehen, wenn es hier auch einen richtigen Meeresstrand gäbe? War das die Idee, die zum Song »Vienna sur Mer« geführt hat? Kannst du uns etwas über den Gastsänger bei diesem Lied erzählen?

Hier muss ich leider ein bisschen ein Befangenheitsveto einlegen. Der Text von »Vienna sur Mer« ist von meinem Freund Carsten Friedrichs, also kann ich über die Intention dahinter wenig sagen. Mir gefiel er bloß gut und ich hatte Lust, ihn zu singen. Als wir – Carsten, Gunther Buskies und ich – das Stück dann aufgenommen hatten, dachte ich zu Hause plötzlich: »Na irgendwie habe ich das doch schon mal … Wien am Meer … das kommt mir irgendwie …« Und dann googelte ich es und musste feststellen, es gibt schon ein Stück namens »Wien am Meer« von Fred Schreiber. Gerade als Außenstehender wollte ich das nicht einfach klauen. Daher nahm ich dann Kontakt zu Fred Schreiber auf und erzählte ihm, was wir gerade gemacht hatten und ob er sich vorstellen könnte eine Strophe zu singen – er hat auch eine tolle Stimme. Das machte er dann und ich bin mit dem Ergebnis sehr happy.

Eines der Wahrzeichen Wiens ist das Riesenrad im Prater. Um ehrlich zu sein, bin ich noch nie damit gefahren, weil mir schon als Kind bei ähnlichen Fahrgeschäften im Vergnügungsmarkt schwindelig wurde. Ist der Held des Liedes »Runde um Runde« eine ähnliche Figur wie ich?

In »Runde um Runde« bediene ich eigentlich ein Wiener Klischee, also das Riesenrad. Ich bin großer Fan des Films »Der dritte Mann«. Darin gibt es diese entscheidende Szene, in der sie oben sitzen und der Hauptdarsteller Angst hat, dass Orson Welles ihn rausschubst. Das ist für mich der absolute Horror. Ich habe seit ein paar Jahren Höhenangst – also massive Höhenangst, richtige Panikattacken – und deswegen schrieb ich ein Stück aus der Warte einer Person, die einer anderen Person einen Gefallen tut, im Riesenrad mitfährt und dabei feststellt, dass das keine gute Idee gewesen ist.

Eines meiner Lieblingsstücke auf dem neuen Album ist »Der Regen in Wien«, das wunderschöne Popmomente bietet. Obwohl ich kein großer Fan von Regen bin, kann mich seine Stimmung berühren. Und dieses Lied besingt ihn auf poetische Weise: wie er die dunklen Gedanken wegspült. Welcher der neuen Songs liegt dir besonders am Herzen?

Freut mich, dass dir »Der Regen in Wien« so gut gefällt. Es ist auch, glaube ich, eines meiner Lieblingsstücke, aber wirkliche Lieblingsstücke auf Alben habe ich eigentlich nicht. Da bin ich wie ein Schafhirte und mir gefällt jedes meiner Schafe.

Wer gerne hinter Fensterscheiben schaut oder nicht nur touristische Orte in einer Stadt besucht, dem werden »Hinter Jalousien« und »Verbautes Haus« sicher gefallen. Sind das für dich die Dinge, die Wien seine Poesie verleihen?

Mir ist mal aufgefallen, dass sich der Rhythmus ändert, wenn man sich länger in einer Stadt aufhält – also länger als eine Woche. Man fängt an, auf Kleinigkeiten zu achten, auf die man normalerweise überhaupt nicht achten würde. Man glaubt, da irgendwas zu entdecken, so kleine Details, die einem auf einmal auffallen, wie eben zum Beispiel runtergelassene Jalousien. Man fängt an zu rätseln: Was hat es wohl damit auf sich? Was könnte sich denn dahinter verbergen? Oder: Was ist denn mit dem Haus? So Details, die man plötzlich in einer Stadt zu sehen glaubt. Angeblich total interessante Details. Ich weiß nicht, ob die wirklich wichtig sind, aber davon handeln diese beiden Stücke.

Das Lied »Tourist« kann im Kontrast zu den vorherigen Gedanken stehen. Was hältst du von der heutigen Welt, in der das Reisen dank Instagram-Fotos und Youtube-Vlogs immer oberflächlicher wird? Hast du manchmal auch das Gefühl, dass es immer mehr nur darum geht, vor den Social-Media-Freund*innen anzugeben, wo man gerade ist?

Ja, Social Media … Ich poste nie irgendwas. Ich habe noch nie mein Essen fotografiert oder mich vor irgendeinem Gebäude. Insofern habe ich damit nichts zu tun. Für mich ist das Stück »Tourist« auch ein Schlüsselstück des Albums. Als ich vier Wochen krank im Bett lag, schrieb ich den Text. Und als ich den hatte, war für mich die Platte übern Berg. Das war mir wichtig, denn was erdreiste ich mich da, wenn ich als Außenstehender eine Platte über Wien mache. Also ich habe überhaupt keine Ahnung und kratze nur an der Oberfläche – das wollte ich mit dem Stück zum Ausdruck bringen. Dass ich wirklich ein erbärmlicher Tourist bin und eben nur aus meiner bescheidenen Perspektive singen kann.

Das letzte Stück des Albums, »Wolfgang von Kempelens Sprechmaschine«, ist mindestens so experimentell wie die Erfindung, von der es handelt. Warum hast du dich gerade für den österreichisch-ungarischen Erfinder Wolfgang von Kempelen und seinen Sprechapparat entschieden? Ist er jene berühmte Person aus Österreich, die dich am meisten fasziniert?

»Wolfgang von Kempelens Sprechmaschine« ist das einzige Stück, das tatsächlich in Wien entstanden ist. Ich war ja mit Carsten und Gunther drei Tage auf Exkursion in Wien und wir nahmen das Stück dann tatsächlich im Hotel auf. Mich machte Wolfang von Kempelen schon vorher neugierig. Ich interessierte mich immer schon für Erfinder*innen und guckte dann in der Recherche zu »Wien«, was es denn für Wiener Erfindungen und Wiener Erfinder*innen gibt. Dabei bin ich auf ihn gestoßen. Und für synthetisierte Sprache interessierte ich mich auch schon immer. Ich kann nur allen raten, mal die Maschine von Wolfgang von Kempelen anzugucken, die ist wirklich faszinierend.

Das Album wird auch in einer Sonderausgabe erscheinen, die weitere elf Tracks beinhaltet. Könntest du uns verraten, warum diese auf dem Hauptalbum keinen Platz gefunden haben? Was ist anders an diesen Songs?

In den meisten der ersten Stücke, die ich für das Album aufnahm, tauchte – meistens im Refrain – das Wort »Wien« auf. Was wahrscheinlich mit dem Umstand zu tun hat, dass ich das Wort phonetisch so schön finde. Aber ich wollte kein Album machen, bei dem in jedem Stück das Wort Wien vorkommt. Davon erzählte ich dann Gunther von Tapete Records und er schlug vor, doch einfach ein Bonusalbum zu machen. Was mir sehr gelegen kam, weil ich eh zu viele Stücke für ein einfaches Album hatte.

Andreas Dorau »Wien«

Das Album »Wien« von Andreas Dorau erscheint am 14. Februar 2025 bei Tapete Records. Aktuelle Konzerttermine: 13. Februar, Hamburg (DE), Hanseplatte — 14. Februar, Berlin (DE), HHV Store — 4. April, Berlin (DE), Monarch — 11. April, Hannover (DE), Lux — 7. Juni, Wien, Chelsea.

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