Ob Unterarm, Nacken oder Rücken – Jedes Stück Haut findet seine passende Tinte. Tattoos gehören zum guten Ton und mit ihnen Tätowierte. Sogar Modehäuser und Fashion-Blogger haben sie für sich entdeckt. Und wir alle überlegen bereits fieberhaft, was wir uns als nächstes stechen lassen. Ein Klagelied. Und ein Hoffnungsschimmer.
David Beckham tätowiert © H&M
At Work © Little Swastika
At Work 2 © Little Swastika
Multiback Tattoo © Little Swastika
Tattoo Back © Little Swastika
Tattoo Back 2 © Little Swastika
Tattoo front © Little Swastika
Tattoo Back 3 © Little Swastika
Double back © Little Swastika
Double Back reversed © Little Swastika
Little Swastika himself © Little Swastika
Tattoo Back 4 © Little Swastika
Am liebsten würden wir uns gar nicht erinnern. Doch die Bilder haben sich in unseren Köpfen eingebrannt: Tribals, die uns die Tränen in die Augen treiben. Arschgeweihe, die im wahrsten Sinne des Wortes ausufern. Randomisierte chinesische Zeichen ohne viel Sinn, dafür mit ganz viel Bedeutung – und Grammatikfehlern. Dazu das Grauen eines jeden Punks, der nicht auf New Found Glory oder gar Blink 182 steil geht: Sterne in allen Formen – hinter dem Ohr, über den Ellenbogen, oder gleich am Handgelenk. Die Schlauen unter euch haben erkannt, worum’s geht: Tattoo-Trends, die die Grenzen des guten Geschmacks in regelmäßigen Abständen pulverisieren.
Wer nun ob der nächsten zu erwartenden übelkeitserregenden Welle von Einheitsbrei-Tintenspielereien in Angstzuständen ausbricht, dem sei diese Angst hiermit genommen. Denn es ist bereits viel schlimmer. Tattoos treten nicht mehr in verschiedenen Formen als Trend auf, der Horror hat sich längst auf die gesamte Tattoo-Szene ausgeweitet.
Wer trägt die Schuld?
Denn Tattoos, so scheint es, gehören in der westlichen Gesellschaft mittlerweile zum guten Ton. Der zugehackte Unterarm wirkt wie der Eintrittsschein in jegliche Kreativszene. Je weiter sich die Tattoos dabei den Arm runterschlängeln, desto höher steigt der Credibility-Score. Jeder fünfte Österreicher hat eines davon. Die schäbigen Tattoo-Läden, die früher die geneigten Körperschmuck-Fans stachen, gehören der Geschichte an. Sie sind durchgetakteten Ich-AGs gewichen – „Tattoo-Artists“ nennen sich diese Unternehmer dann. Ihre Kalender sind mit verschiedenen Tattoo-Conventions in der ganzen Welt zugepflastert. Tätowiert wird, so lange die Kohle stimmt. Nur Warten muss man auf das Kunstwerk-in-Serie oft Jahre, während man sich mit TV-Shows der Stichstars die Zeit vertreiben kann. Dass sich das gut vermarkten lässt, ist klar. Und so werben mittlerweile auch etablierte schwedische Ausstatter mit tätowierten Models.
Das war nicht immer so. Ich will hier jetzt nicht die Geschichte der Tattoos rezitieren, denn die Wikipedia könnt ihr selbst auch bemühen. Doch Tattoos standen vor gar nicht all zu langer Zeit für etwas. Sie waren Teil alternativen Lebensstils in der westlichen Welt. Erkennungsmerkmal jener, die sich dem Einheitsbrei entziehen wollten. Die das Angebot des Lebens nicht akzeptierten, es zerbrachen und ihre eigenen Regeln machten. Sie waren der Ausdruck des Bruchs mit Konventionen, Zeichen der Ablehnung. Also quasi das visuelle Merkmal der Geburt des Individualismus‘ aus dem Geiste der Verweigerung.
Tattooweird
Wo ist all der Dreck hin? Das Unpolierte, der Schmutz, das Böse? Für Little Swastika war er nie weg. Er ist ein Tätowierer, der sich der aalglatten Tattoo-Szene entzieht. Alles an ihm schreit seinen Betrachtern „unkonventionell!“ ins Gesicht. Sein Name ist gerade in Deutschland beinahe als Affront aufzufassen. Doch er will dem Swastika seine ursprüngliche, friedvolle Bedeutung zurückgeben. Sein Antlitz: Dunkel wie das eines Dämons. Die Haut teilweise bis zu fünf Mal tätowiert. Da kein Platz mehr war, mussten selbst die Augäpfel unter die Nadel – auch sie sind schwarz. Seine Malereien ritzt er statt mit Pinselstrichen mit dicken Nadeln in die Haut seiner Kunden. Ihre Schmerzen sind ihm dabei egal. Was zählt, ist das Kunstwerk.
Und die Kunstwerke, bestehend aus tibetanischen Ornamenten, grafischen Elementen und knalligen Farben, gehen mittlerweile immer öfter über zwei Rücken. „Doubleback“ nennt der Künstler aus dem idyllischen Radolfzell am Bodensee seine Kreation. Zuletzt stach er gar über vier Rücken. Was die Szene davon hält, ist ihm egal. „In der Tattoo-Szene hab’ ich gar nichts zu suchen.“ Er selbst ließ sich mit 18 Jahren „Feel Free“ auf die Knöchel tätowieren. Die Wortkombination – heute ob ihrer inflationären Verwendung oftmals bedeutungslos – fungiert als Leitmotiv des Künstlers.
Wen kümmert’s?
Die Tattoo-Szene braucht unkonventionelle Köpfe wie Little Swastika. Das ist, was sie immer ausgemacht hat, ein langer Kampf um Individualität, um eigene Persönlichkeit. Auch wenn ein hübsches Sleeve beim Fortgehen besser ankommt.
Mehr Bilder und Infos unter:
www.thegap.at/kunststories/artikel/abseits-vom-arschgeweih