In »Die verschissene Zeit« experimentiert Barbi Marković mit literarischen Zugängen und formt aus einem Rollenspiel einen Roman, der ins Belgrad der 1990er-Jahre führt. Ein aberwitziger Timetravel-Trip in nicht unbedingt herrliche Zeiten.
Marković haut also in ihrem Roman, den sie erstmals komplett auf Deutsch verfasst hat, ordentlich auf den Putz. Auch sprachlich, wenn sie Kasandra, eine ihrer drei Held*innen der Handlung, die herrlichsten Schimpf- und Fluchtiraden in den Mund legt – oder einfach nur Vorstadtganoven der unterschiedlichsten Härtegrade spuckend und fluchend auf- und abtreten lässt. »Einige der Typen, die im Roman vorkommen, gibt es wirklich«, erklärt Marković, danach gefragt, wie realitätsnah ihre Charaktere denn so sind.
Von der Rolle
Abgesehen davon schöpfte Marković, die 2017 beim Bachmann-Preis-Wettbewerb in Klagenfurt mitgemacht hat, aber auch aus anderen Quellen: »Die Idee zum Buch hatte ich, als ich gemeinsam mit Freunden ›Dungeons & Dragons‹ spielte. Ich wollte den Anwesenden etwas über die 1990er-Jahre erzählen«, verrät die Autorin. Dabei ist ihr aufgefallen, dass sie über dieses Jahrzehnt wie über eine Fantasy-Welt erzählt. »So kam mir der Einfall, ein privates Rollenspiel aus meiner Erinnerungswelt zu machen.« Die Regelmechanik dafür borgte sie sich kurzerhand vom schwedischen Indie-Rollenspiel »Tales from the Loop«. Das Spiel basiert auf einer Graphic Novel über zeitreisende Teenager vom Schweden Simon Stålenhag und wurde 2020 auch von Amazon Prime als Serie veröffentlicht. »Ich sah darin das perfekte Tool für mein Erinnerungsprojekt, das ich zu Papier bringen wollte.«
Marković adaptierte das Rollenspiel für ihre Zwecke, ließ aber das Regelwerk vom Autorenkollegen Thomas Brandstetter neu ausarbeiten. Das Spiel »Die verschissene Zeit« war geboren. Und von da war es nur noch ein kurzer, konsequenter Schritt zum Buch. Mitunter ließ sie sogar Ideen, die beim Spielen im Freundeskreis entstanden sind, in ihren Roman einfließen.
»Wenn ich mir die Entstehungsgeschichte des Romans anschaue, steht am Anfang eigentlich eine Copyright-Verletzung. Wieder einmal«, zeigt sich die 41-Jährige ein wenig amüsiert und spielt damit auf den Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere an. Als die damalige Germanistikstudentin und Verlagslektorin 2006 aus Thomas Bernhards Erzählung »Gehen« einfach ein »Ausgehen« machte, den Stoff ins Serbische übersetzte und ins Belgrader Nacht- und Clubleben verlegte, war der Suhrkamp Verlag nicht gerade erfreut. Als dann die Autorin und Übersetzerin Mascha Dabić drei Jahre später den Text ins Deutsche zurückholte, bedurfte es noch einmal intensiver Überzeugungsarbeit. »Ich hatte Glück und es gab viele Zufälle, aber letztlich landeten Übersetzung und Text wieder bei Suhrkamp und wurden dort verlegt«, erinnert sich die Autorin.
Bernhard-Schleife
So richtig begeistert ist sie trotzdem nicht, wenn man sie noch immer (oder immer wieder) auf Thomas Bernhard anspricht. Darum gibt’s feine Ironie, wenn man fragt, was sie mit dem Autor, der heuer 90 Jahre alte geworden wäre, verbindet und assoziiert: »Entgegen allen Empfehlungen hat sich herausgestellt, dass sich Thomas Bernhard besonders gut als Lektüre eignet, wenn man Deutsch noch nicht gut kann. Er wiederholt ja alles hunderttausend Mal.«
Deswegen sei an dieser Stelle jetzt noch einmal wiederholt, dass ein Eintauchen in Markovićs (Erinnerungs-)Kosmos dringend empfohlen ist. Insbesondere dann, wenn man Texte schätzt, die neue Wege gehen und trotzdem Raum lassen für mehr als nur Interpretationen: »Ich mag Spoiler, deswegen kann ich es ja sagen. Das Ende meines Romans ist schon so konzipiert, dass es Leser*innen unzufrieden zurücklassen könnte. Aber das Regelwerk für das Spiel ›Die verschissene Zeit‹ findet sich gleich im Anschluss. Es kann also jeder selbst in die 1990er zurückreisen und die Geschichte umschreiben.«
Das wäre jetzt ein schönes Schlusswort, wenn nicht schon wieder so eine Idee aufgetaucht wäre, die schneller artikuliert als durchdacht war. Ist das denkbar, Lesung und Spieleabend zu kombinieren? Nur so, falls man ein dringendes Bedürfnis nach einem neuen Ende gleich direkt vor Ort verspürt. Barbi Marković befördert die Frage wieder diplomatisch dorthin, wo sie hingehört: »Nein. Absolut nichts auf dieser Welt ist langweiliger, als anderen Menschen bei einem Rollenspiel zuzusehen. Das muss man getrennt halten, obwohl es zusammengehört.« Game over und Fortsetzung folgt.
»Die verschissene Zeit« von Barbi Marković erscheint am 21. August 2021 im Residenz Verlag. Die Buchpräsentation findet voraussichtlich am 12. Oktober im Literaturhaus Wien statt.
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