Unsere Theater und Performance-Expertin Magdalena reist mit dem Zug nach Japan, um die dortige Szene zu erkunden. Was sie auf ihrem Weg erlebt, lest ihr hier.
"Lemberg", dieser Name lässt als ehemalige Außengrenze der Habsburgermonarchie einige Glocken klingeln, auch wenn man nicht genau weiß, welche. Schon im nahen Bratislava kann man mit dieser Ortsbezeichnung allerdings garnichts mehr anfangen. Denn aus Lemberg wurde vor hundert Jahren zuerst "Lwów" und schließlich "Lwiw". (Beides für deutschsprachige Zungen übrigens absolut unaussprechbar.) Lemberg, jahrhundertelang Zentrum der polnischen Intelligenzija, heute auf dem Gebiet der Ukraine, ist von Wien übrigens nicht viel weiter entfernt als Bregenz. Trotzdem steht es nicht auf den allermeisten Reiseplänen. Und tut dies noch viel weniger seit Ausbruch der Unruhen Ende 2013. Die Assoziationskette "Ukraine = Krim = besser nicht" lässt dieses riesengroße Land zum weißen Fleck für jeden bloß durchschnittlich abenteuerlustigen Menschen werden.
Ist man dann erst einmal dort, ermutigt von erfahrenen Zugreisenden (Danke, Steven), könnte man fast vergessen, dass im Südosten dieses Landes fast wöchentlich Todesopfer zu beklagen sind. Lwiw (bleiben wir bei der ukrainischen Bezeichnung – vorlesen werde ich diesen Text ja hoffentlich niemandem müssen) ist eine wunderschöne Stadt. Der barocke Kern ist UNESCO-Weltkulturerbe und noch immer stark katholisch geprägt. An jeder Ecke harrt eine Kirche ihrer Entdeckung und das von Fellner & Helmer geplante Hotel George verbreitet in leuchtendem Pfirsichton starkes Wiener Flair.
Noch viel Platz
Sehenswert ist auch der Lytschakiwski-Friedhof, laut Reiseführer der "Père Lachaise des Ostens" und wohl einer von Dutzend die diesen Spitznamen tragen. Erst diese etwas außerhalb der ehemaligen Stadtmauern gelegene Ruhestätte führt einem auf traurige Art und Weise vor Augen, dass man sich eben doch nicht in einer Fin-de-Siècle-Romanze befindet: Im hinteren Teil dieses von verwitterten Grabsteinen durchzogenen Urwaldes, die noch viele Geschichten aus dem einstigen Vielvölkerstaat Östereich und der UdSSR erzählen, befindet sich der neu angelegte Soldatenfriedhof. Reih an Reih liegen hier unzählige junge Männer, die Erde ganz frisch aufgeschüttet. Betreten sieht man einer jungen Frau zu, wie sie vor einem Grab, das wie alle anderen mit unzähligen knallbunten Plastikblumenkränzen und blau-gelben Schärpen geschmückt ist, eine Kerze anzündet. Wenig später stößt eine ältere Dame dazu. Hier trauert wohl eine Mutter um ihren Sohn. Eine Ehefrau um ihren Mann. Als sie nach einem kurzen Gebet die Grabstelle verlassen, schaue ich mir diese genauer an. Der Gefallene war mein Jahrgang – doch er hat seinen 26. Geburtstag nicht mehr erlebt.
Politisches Bier
Sogar an diesem zeitlos traurigen Ort hat das 21. Jahrhundert Einzug gehalten: Viele der Namensschilder sind mit QR-Codes versehen, die zu digitalen Kondolenzbüchern führen und Informationen zu Leben und Einsatzgebiet der Soldaten bereitstellen.
Und man stellt sich hier offensichtlich auf weiteres Blutvergießen ein: Kaum ein Drittel des neuen Teils des Friedhofs ist bisher gefüllt und es wird schon an einer Erweiterung gebaut. Macht man keinen Ausflug hierher, dann gemahnt tatsächlich nichts an den Krieg. Kleine versteckte Aufrufe findet man aber auch an unerwarteten Ecken: Die am Hauptplatz frisch eröffnete Craft-Brauerei "Pravda" (zu deutsch "Wahrheit") gibt ihren Kreationen Namen wie "Frau Ribbentrop", "Putin Huilo" (was so viel heißt wie "Putin, der Wichser") und "Hope Obama" (ein dunkles Bier, wie könnte es auch anders sein). Auf den Etiketten sind bitter-lustige politische Aufrufe und Charakterisierungen der in Hopfen nachgebildeten Politiker.
Maidan? I would prefer not to.
Ein wenig anders ist die Situation in Kiew. Auch in dieser geschichtsträchtigen Stadt ("Before there was Russia or Ukraine, there was Kiew!") gibt es Kirchen an jeder Ecke. Doch die allermeisten sind orthodox und nicht katholisch. Und in der inneren Stadt trifft man nicht auf Craft-Bier sondern auf junge Soldaten, die scherzend und in kleinen Grüppchen herumziehen und in ihrem Habitus an Bilder von GIs auf Heimaturlaub während des zweiten Weltkriegs erinnern. An jeder Litfasssäule klebt drastische Werbung für die Unterstützung des Vaterlandes. Am Maidan ist eine Fotoaustellung über die Kämpfe zu besichtigen. Ein großes Gebäude, das während der Unruhen zerstört wurde, ist mit großen Planen verhängt. Am anderen Ende des Platzes strahlt das unvermeidbare McDonald’s-M. Ich will natürlich unbedingt an diesen Ort, der untrennbar mit der Revolution verknüpft ist. Doch erst an Tag Nummer drei meines Kiew-Aufenthalts gelingt es mir hierher zu kommen. Denn meine gleichaltrige Gastschwester Bozhena, die mir jeden Winkel ihrer Stadt zeigt und mir sonst jeden Wunsch erfüllt (sogar zur megalomanischen Villa des geschassten Ex-Präsidenten ans Ende der Stadt fährt sie mit mir), sträubt sich.
Vom Freibad in den Krieg
Auch über die derzeitige Situation redet sie, die sonst ein sehr wacher Geist ist (und als eine der ganz Wenigen hier sehr gut Englisch spricht), ungern. Auf dieses Verhalten treffe ich immer wieder. So erzählt mir etwa eine Lehrerin, dass keiner mehr in ihrem Umfeld Zeitung lese. Die Situation auf der Krim wird bewusst verdrängt. Man könne ohnehin nichts ändern. Einzig und allein die sehr undurchsichtige Einberufungspolitik der Armee verfolgt sie ganz genau. Denn sie hat einen Sohn im wehrpflichtigen Alter, der bald mit dem Jus-Studium fertig sein wird. Eigentlich wäre er das schon seit Juli, aber zu seiner letzten Prüfung ist er "zur Sicherheit" nicht angetreten. Denn eine fixe Jobzusage hatte er noch nicht und so hätte es gut sein können, dass am Tag nach dem Diplom der Einberufungsbefehl ins Hause flattert. Oder der Einberufungstrupp gleich vor der Tür oder im Supermarkt steht und ihn direkt in die Kaserne mitnimmt. Alles schon passiert. Sogar aus dem Schwimmbad sollen junge Männer, noch in Badehose, in den Wehrdienst "verschleppt" worden sein.
Zappen auf Ukrainisch
Auch "Zuhause" bei Mama Larissa und Papa Sascha (deren Sohn Bogdan mich im Zug via Google Translate eingeladen hat, bei ihnen zu wohnen) läuft zum Abendessen zwar der Fernseher, sobald aber die Nachrichten kommen, wird doch lieber auf einen Kochkanal umgeschalten. Nach den Vorkommnissen der vergangenen Woche, bei denen zwe
i Soldaten vor dem Kiewer Parlament bei einer politische motivierten Schießerei ums Leben kommen, frage ich später per E-Mail. Antwort: "Just some idiots. Nothing to be really scared of." Ihre Worte in Gottes Ohr. Denn nichts lieber würde ich an dieser Stelle tun, als eine uneingeschränkte Reiseempfehlung für (große Teile) dieses wunderbaren Landes zu geben, das voll ist mit atemberaubenden klerikalen Bauten (manche davon so alt wie die Hagia Sophia) und den gastfreundlichsten Menschen überhaupt. Und das noch dazu gerade so billig zu bereisen ist, dass man sich schon fast schämen muss. Denn die einzige Währung die gerade noch schwächer ist als der Rubel, ist der ukrainische Griwna. Noch in Wien, teilt man mir beim Geld wechseln mit, dass man "keine Kriegswährungen vorrätig halte". Bleibt nur zu hoffen, dass der Schalterbeamte auch bloß ein Idiot ist. Und keine Kassandra. Denn die Ukraine muss so schnell wie möglich wieder unsere Reisetagebücher füllen.
Magdalena befindet sich gerade bei Kilometer 7195 irgendwo in der mongolischen Wüste und ist leicht in Verzug mit ihrem Reisebericht. Sie war bereits in Lemberg, Kiew und Moskau, Kazan, Jekaterinenburg, Novosibirsk und in Irkutsk. Am Plan stehen noch Beijing, Seoul, Busan, Fukuoka und Tokyo. Wer der Reisenden hautnah folgen will, dem sei der Instagram-Kanal @viertewand empfohlen.
1: Am Friedhof in Lemberg, 2: Das "Freundschaft der Nationen"-Denkmal in Kiew, 3: Der Maidan in Kiew, 4: Ein Fahrschein kostet umgerechnet acht Cent