Chroniken der Wiener Lokusliteratur

Auf Wiener Häusln findet man echte Inhalte, Lebensweisheiten und literarische Perlen. Eine Annäherung.

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Die Toilette. Zlavoj Žižek wusste vieles über sie zu berichten, eine ganze Ideologie entdeckte er gar hinter der unterschiedlichen Bauweise der stillen Örtchen Frankreichs, Deutschlands und der USA. Wenn also einer der stimmstärksten Querdenker unserer Zeit über Toiletten philosophieren kann, warum nicht daran Anleihe nehmen? Denn tatsächlich, auch in unseren Breitengraden ist der Gang auf die öffentliche Toilette immer wieder für Überraschungen gut. Hierzulande wird man jedoch weniger von der Architektur oder der Bauweise inspiriert, obwohl die in manchen Fällen natürlich auch spannend, in anderen, in Anbetracht der Enge und fragwürdigen Funktionalität, peinigend sein kann. Um Hygiene geht es hier auch nicht. Denn dieser Lokalaugenschein in die Wildnis der Wiener WCs im öffentlichen Raum widmet sich einem Gedanken, der noch um einiges unorigineller ist, als die spitzfindige Analyse der Architektur diverser stiller Örtchen, oder gar eine philosophische Abhandlung der Bauweise und Funktionalität à la Zizek. Liebe Klogeherinnen und Klogeher, jung und alt. Es geht um Inhalte!

Naive Liebe ist auch oasch

»Naive Liebe ist auch oasch.« Dieses Stück Lebensweisheit ziert eine der Toilettenwände der Wiener Filmakademie. »ich.com, sie.net, scha.de« Lautmalerei, die von der Tür der Nachbarkabine prangt. Großartig. Mehr davon bitte. Denn dieses Erweckungserlebnis am Häusl hinterlässt sogleich folgende Fragen: Verstecken sich überall in dieser Stadt weitere solcher kleiner Köstlichkeiten, Kugelschreiberkritzelein, verschlüsselte Botschaften, politische Statements, Liebeserklärungen, die das gängige Niveau des verbreiteten Alltagsvandalismus sprengen? Kann nun tatsächlich das literarische Genre der Lokusliteratur ausgerufen werden? Is this a thing? Ich glaube ja. Wagen wir uns also hochoffiziell auf das, nun ja, mehr oder minder geistig stimulierende Terrain der Vienna Toilet Art. Denn in Zeiten, in denen so vieles auf virtuellen Walls hinterlassen wird und somit für alle Ewigkeit – Vorratsdatenspeicherung sei Dank – in das digitale Gedächtnis festgeschrieben ist, hat es doch etwas Bekömmliches, sich erneut den leibhaftigen, physischen Walls und deren Inhalten zu widmen, präziser, den Türen und Wänden der öffentlichen Toiletten dieser Stadt.

Jetzt kann man natürlich argumentieren, wow, big deal, schon einmal etwas von Street Art gehört? Donaukanal ist dir ein Begriff? Durchaus, der Einwand ist berechtigt. Allerdings, wer kann guten Gewissens behaupten, sich noch nie gefragt zu haben, was und vor allem wer hinter all den Botschaften steckt, die diverse öffentliche Toiletten Wiens zieren? Welche Motivation veranlasst den Griff zum Kugelschreiber oder Edding – ganz klar, den hat man ja auch immer dabei –, den Wunsch, sich am Häusl zu verewigen? Ist es Ausdruck eines menschlichen Urinstinktes, Schlagwort Höhlenmalerei? Ist es die Intimität der Unsichtbarkeit, die Gewissheit des Geheimen? Gleicht die Toilettenkabine einer Art Kokon, ist sie sicheres Vakuum, das vor dem Werten und Meinen der Außenwelt schützt? Denn eines ist klar. Wenn hier Statements hinterlassen werden, dann passiert dies meist anonym. Wenn hier Kunst passiert, dann passiert sie anonym.

Weiter zu antiken Klosprüchen, geteilten Flächen und politischen Inhalten.

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