Unter all den Publikationen zur Fußball-WM sticht eine besonders heraus: „Gooool do Brasil“ von Alois Gstöttner, der einen etwas anderen Blick auf das Großereignis wirft – abseits von Titel, Toren und Zahlen.
Recife: Ein Betonjuwel aus den 1970er Jahren. Das Estádio do Arruda in Recife (Pernambuco) vom Team Santa Cruz. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Nossa Senhora do Socorro: Kurz vor der Stadionerweiterung in der Stadt im nordöstlichen Bundesstaat Sergipe. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Guarulhos: In der Justizvollzugsanstalt. Im Hintergrund wirbt das brasilianische Model Gisele Bündchen für die Unterwäschenmarke »Hope«. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Rio de Janeiro: »The Boys from Ipanema«. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Manaus: Über 500 Mannschaften ermitteln im größten Amateur-Fußballturnier den Meister ihrer Reihen. Nicht genug des Spektakels, findet als integrativer Bestandteil des Turniers mitten im Dschungel Amazoniens ein Schönheitswettbewerb statt. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Rio de Janeiro: Am Stadtrand der Stadt am Zuckerhut: Im Stadion des Teams America in der zweiten Liga der regionalen Meisterschaft. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
São Paulo: »Wohnzimmer« von Corinthians, das Estádio do Pacaembu, an der Praça Charles Miller. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Alois Gstöttner: Gooool do Brasil. Erschienen bei Club Bellevue. (© Alois Gstöttner / Gooool do Brasil)
Bald ist wieder Fußball-WM der Herren. Aktive, Fans und Connaisseure des schönes Spiels haben schon seit Monaten Herzklopfen. Der Rest wird zehn Wochen davor langsam in den Bann gezogen werden und Stammtische weltweit in ein Forum des sportlichen Diskurses verzaubern. Schlichter und schlechter als das Champions League-Zeug auf Puls4 können die gar nicht sein.
Kein Sportteil kommt mittlerweile ohne Verweis nach Brasilien, wo die WM ab 12. Juni zum zweiten Mal stattfindet, aus. Kein Wirtschafts- oder Auslandsressort kommt ohne Erwähnung der prekären Situation der Zivilbevölkerung Brasiliens aus. Probleme bei den Stadionbauten, die enorme Schere zwischen arm und reich, Proteste seit dem Confederations Cup 2013 finden sich regelmäßig in den Zeitungen. Das Staatsfernsehen schürt die Vorfreude auf den sportlichen Aspekt und zeigt wöchentlich ein angekauftes „Fußball WM-Magazin“, bei dem zwei Teams vorgestellt werden. Und im Internet ist WM-technisch sowieso ständig Halli Galli.
Auch die Publikationen abseits des klassischen Zeitungsmarkts – also Bücher! – explodieren in ihrer Anzahl für gewöhnlich vor einem solchen Großevent – so ist die Fußballweltmeisterschaft nach den Olympischen Sommerspielen die größte Sportveranstaltung der Welt – und das will beschrieben werden. Meistens eint diese Publikationen ein sehr klassischer Ansatz: Statistiken, Spieler, die Teams der Endrunde, die Stadien. Panini-Hefte gibt es auch. Man kann sich schon glücklich schätzen, wenn in Büchern zur WM altbekannte Geschichten wie die nationale Tragödie der ersten Endrunde in Brasilien 1950, als man im entscheidenden Spiel knapp gegen Uruguay verlor, enthalten sind.
Das gallische Dorf der WM-Bücher
Eine Ausnahme von der Oberflächlichkeit: „Gooool do Brasil“, des Wiener Journalisten, Fotografen und Art-Directors Alois Gstöttner, der nicht nur Magazine wie Null Acht – Magazin für Rasenpflege gegründet und chefredaktioniert hat, sondern auch als freier Journalist unter anderem für The Gap tätig war. Dieser zeichnet, wie der Untertitel so schön verspricht, eine „Kartografie einer nationalen Leidenschaft“, bei der es nicht darum gehen soll, wer wann wieso wie viele Tore geschossen hat, sondern darum, wie die Menschen in Brasilien ihren Nationalsport leben und lieben.
So taucht Gstöttner ein in die Fankulturen des großen Teams von Corinithians und dem Zweitligisten Juventus, der sich als Verein der italienischen Einwanderer versteht. Er begleitet eine Amateurmannschaft durch die Copa Kaiser, einer Amateurmeisterschaft in São Paulo, tratscht mit Schönheitsköniginnen, Schiedsrichter mit ähnlicher gefühlter Macht wie österreichische Bürgermeister (Provinzkaiser!) und besucht ein Gefängnis, in dem Fußball oft den einzigen Hinweis auf lebenswertes Leben gibt. Als besonders berührend entpuppt sich ein Gespräch mit Sócrates, dem Kapitän und Playmaker der 1982er Selecão, der neben César Luis Menotti und auch Cristiano Lucarelli einer der wenigen explizit linken Persönlichkeiten des Fußballzirkus’ war.
Das Herzstück von „Gooool do Brasil“ sind jedoch nicht die Erzählungen und Begegnungen, sondern die zahlreichen – und den größten Teil des Buches ausmachenden – Schwarzweiß- und Farbfotografien.
Insgesamt ist „Gooool do Brasil“ also nicht nur für Freude des runden Leders oder Fotografie-Aficionados – so sind die Fotografien wirklich eindrucksvoll – gedacht, sondern ein Buch für all diejenigen, die wissen wollen, was denn nun den Fußball ausmacht. Das sind nämlich nicht Tore, Titel und Erfolge, sondern, wie könnte es anders sein, die Menschen.
Darüber haben wir mit Alois Gstöttner gesprochen.
Im Unterschied zu den meisten anderen Büchern zur Fußball-WM 2014 geht es in „Gooool do Brasil“ nicht um Stars und Statistiken, sondern um Fußball abseits des Medienmainstreams. Was macht für dich die Faszination dieses „verborgenen“ Brasilien aus?
Ganz unabhängig von Brasilien, das ist einfach auch mein ganz persönlicher Zugang. Meiner Meinung nach kann es keiner besser als Nelson Rodrigues ausdrücken: "Beim Fußball ist der größte Blinde der, der nur den Ball sieht. Der Ball ist ein winziges, bedeutungsloses, lächerliches Detail. Was wir beim Fußball suchen, ist das Drama, die Tragödie, das Schaudern und das Mitleiden." Mir ging es um Geschichten, bzw. eine alternative Kartografie von Futebol, nicht um einen umfassenden Wikipedia-Eintrag, wie vielleicht andere Bücher konzipiert sein mögen. Als Beispiel: Für mich hat eine persönliche Begegnung mit einem Amateur-Schiedsrichter in den Favelas von São Paulo mehr Relevanz, als die Anzahl der Tore und Titel von Pelé.
Wie lange haben die Arbeiten an „Gooool do Brasil“ gedauert?
Die ersten Überlegungen gab es bereits Ende 2008, also mittlerweile vor fast sechs Jahren. Die konkrete Recherchephase und intensivere Beschäftigung hat Anfang 2011 begonnen.
Steckt hinter der Auswahl, ob Schwarzweiß- oder Farbfoto, neben ästhetischen Aspekten auch eine bestimmte Symbolik? So werden beispielsweise ja die Fans von Corinthians fast ausschließlich in schwarzweiß gezeigt.
Gute Frage. Die Fan-Fotos von Corinthians wurden über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen, mehrere Spiele mit ganz unterschiedlichen Wetter- und Lichtsituationen. Also es hat auch eine pragmatische Komponente, um sie als Serie noch wahrnehmen zu können.
Hat auch der Frauenfußball eine ähnliche Bedeutung für die nationale Identität Brasiliens wie der Fußball der Herren?
Abgesehen bei Erfolgen bei Weltmeisterschaften oder den Olympischen Spielen ist Frauenfußball quasi medial nicht vorhanden. Auch strukturell sind das sehr prekäre Verhältnisse. Der FC Santos, der lange Zeit hier eine Vorreiterrolle inne hatte, löste seine Sektion 2012 auf. Seit 2007 gibt es einen nationalen Cup-Bewerb mit 32 Teams, eine landesweite Liga sogar erst seit 2013.
Tut sich deiner Meinung nach das Image Brasiliens im Ausland einen Gefallen mit der Ausrichtung der Fußball-WM und auch der Olympischen Spiele 2016? Russland hat es ja nicht unbedingt gut getan, während der Olympischen Spiele in Sochi in den Vordergrund der Weltöffentlichkeit zu rücken.
Wenn man von Image und City-Branding und dergleichen sprechen will, halte ich die Operation für kontraproduktiv. Sämtliche Schlagzeilen aus Brasilien sind de facto negativ besetzt. Die Ereignisse (Polizeigewalt, Drogenkriminalität und so weiter) hat es vorher auch gegeben, nur hat keiner – und schon gar nicht in Europa – darüber berichtet. Also, wenn sich Brasilien als modernes und fortschrittliches Land positionieren will, gibt es meiner Meinung nach günstigere und sozial nachhaltigere Alternativen als eine WM zu veranstalten.
Gibt es von den brasilianischen Medien Bestrebungen, über Proteste wie die seit dem Confed Cup 2013 oder Nachlässigkeiten im Stadionbau, gar nicht zu berichten? So hat sich ja auch Pelé negativ gegenüber den „Verwirrungen“ geäußert.
Das kann man so sagen, ja. Und interessanterweise ist es ausgerechnet Romário, der »Bad Boy« von früher, der – wenn auch in seiner populistischen Sprache – sehr viel Intelligentes von sich gibt. Er ist seit einigen Jahren in der Politik aktiv und nützt seine Rolle in der Opposition clever aus. Früher wurde er noch als ein Prolet von den Favelas belächelt, heute ist er eine ernstzunehmende Stimme im Kampf gegen das Establishment und gegen Korruption.
Der brasilianische Fußball ist stark von Immigration geprägt: Nicht nur aus England in den Anfangstagen des Futebol, sondern auch aus Italien (Juventus) und Portugal (Portuguesa): Ist das Bleiben in bestimmten nationalen Communities in Brasilien akzeptierter als beispielsweise in Europa?
Bei Juventus und Portguesa muss man dazu sagen, dass es zwei relativ kleine Teams in São Paulo sind. Abgesehen von der japanischen Community im Viertel Liberdade in São Paulo, sehe ich diese Community-Bildung eigentlich nicht. Da praktisch jeder und jede einen Immigrationshintergrund hat, ist es eigentlich auch kein größeres Thema, bzw. hat sich über die Jahrzehnte einfach aufgelöst. Die Geschichten sind natürlich trotzdem immer spannend: Die Großmutter aus Italien, der Opa aus Polen, die in den 1920er-Jahren nach Brasilien ausgewandert sind, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen.
Goool do Brasil von Alois Gstöttner ist bereits im Verlag Club Bellevue erschienen.