Die Nostalgie-Industrie. Warum ist gestern zum besseren Jetzt geworden?
Ob Flohmarkt-Mobiliar, »Gilmore Girls« oder »Pokémon-Go« – die Vergangenheit ist ein Symptom der Gegenwart. Wirft man einen Blick hinter die Retro-Maschinerie, kann das Flüchten in Dagewesenes nicht mehr als schlichter Ausgleich zu einer »schneller werdenden Welt« abgetan werden.
von Bianca Xenia Mayer»Früher haben die Leute einfach mehr Stil gehabt«, sagt Marie. Die Lehramtstudentin wohnt in einer Altbau-WG, ihr Zimmer hat sie mit Möbeln vom Flohmarkt eingerichtet. Das grüne Sofa mit Samtbezug, auf das sie besonders stolz ist, hat nur 50 Euro gekostet. Ihre Kleiderstange (ausnahmsweise von IKEA) ist berstend voll – auch dank Second-Hand-Klamotten aus dem Humana-Store. Im Wohnzimmer steht ein alter Plattenspieler, auf dem Tisch daneben eine rote, antike Kaugummi-Maschine – »zum Anschauen!« Ergänzt wird die Kulisse von freundlichen Polaroid-Partyfotos, die an einer dünnen Leine aus Stahl an der Wand hängen. Fesch, nicht?
Sich wahlweise wie die eigenen Großeltern oder die älteren Geschwister in den 90ern zu kleiden, ist in gewissen großstädtischen Milieus Normalzustand. Die retroeske Überästhetisierung des eigenen Lebens ist dabei längst nicht mehr auf den Wohn- oder Kleidungsstil von vermeintlichen Hipstern beschränkt. Werbe-, Film- sowie Medienbranche haben erkannt, dass mittels nostalgischem Markenbranding finanziell einiges zu holen ist.
Willkommen im Retro Schick Schock
Wie überzeugt man Konsumenten, die schon alles haben? Martin Dräger ist Geschäftsführer von Unruly Deutschland, einer Agentur, die sich auf Social-Video- Kampagnen spezialisiert hat. Er beschreibt auf Lead Digital, warum viele Firmen zu nostalgie-basiertem Marketing greifen. Der wehmütige Blick in die Vergangenheit, so Dräger, rückt das Gefühl sozialer Verbundenheit in den Vordergrund, senkt die Priorität des Verbrauchers, Geld zu sparen und erleichtert so Konsumausgaben. Schlussendlich sind so auch die, die keine Lust auf Fast-Fashion haben und lieber in Qualität statt in Wegwerfware investieren, nicht vor geschickter Werbung gefeit.
Drägers Überlegungen kommen nicht von irgendwoher. Der Brand-Power-Index der amerikanischen Fachzeitschrift Adweek, der Marken nach ihrem Social Media Buzz (Menge von Erwähnungen im Social Web) und Online-Suchanfragen listet, hat 2016 Korrelationen zwischen einem nostalgischen Markenbranding und einem Anstieg des Interesses in der Online-Welt erkannt. Jack Daniels konnte mit seiner »Legend«-Kampagne einen 27-prozentigen Zuwachs im Brand-Power-Index erzielen. Im Clip ist Musik von Mudhoney und Joey Ramone zu hören, darüber spricht eine tiefe Stimme: »He sat in on countless legendary recordings. He played with some of the biggest names in rock ’n’ roll. … His name is Jack.” Auch Coca-Cola bemühte sich, ganz vorne im Nostalgie-Segment mitzuspielen und brachte 2015 »Fanta Klassik« in die Läden. Der in orange gehaltene Spot sollte bewusst das Narrativ einer Vergangenheit bedienen, an die sich kaum noch jemand detailliert erinnert. Die »unverkennbare Ringflasche, ja, die von damals«, wie es im Spot heißt, macht sich bestimmt auch 2017 gut in Maries Küchenregal .
Frei nach dem Motto: »Gut wie früher. Nur heute«
Wo globale Unternehmen die Sehnsucht des Verbrauchers nach Nostalgie bedienen, sentimentalisieren Medienunternehmen die Jugendkultur der 90er und 80er bis zum Erbrechen. Prominentestes Beispiel: Die Facebook Seite »BuzzFeed Rewind«, die sich dem Teilen von Retro-Inhalten verschrieben hat. Welche Zeit man Revue passieren lässt, ist relativ egal – was zählt, ist die Idee. Britney, Britney, nochmal Britney. Star Wars. Paris Hilton, 2006 mit Kim Kardashian. Harry-Potter-Badewannenzubehör. Aus bloßer Selbstlosigkeit geschieht all das natürlich nicht.
Mittels Listenformaten werden Erinnerungen der »Kids of the 90ies« heraufbeschworen, um möglichst viel Reichweite und Klicks zu generieren. Sie heißen »23 Dinge, die du nur kennst, wenn du ein Kind der 90er bist« oder »27 Süßigkeiten, die du kennst, wenn du in den 80er Jahren aufgewachsen bist«.
Erinnert sich noch jemand an die Facebook-Gruppe »Wir wollen das Tschisi-Eis zurück«?
Der Begriff Nostalgie tauchte übrigens erstmals in einem medizinischen Zusammenhang auf. Der Schweizer Arzt Johannes Hofer (1662-1752) beschrieb damit in seiner Dissertation ein krank machendes Heimweh, das besonders Söldner betraf. Inzwischen versteht man darunter eine sehnsuchtsvolle Hinwendung zu vergangenen Gegenständen oder Praktiken, die sich auch hervorragend für neojournalistische Spielereien eignet.
Sarah [Name von der Redaktion geändert] ist Social-Media-Redakteurin bei einem der größten Verlage Deutschlands und denkt sich regelmäßig Retro-Listen aus. Ideen generiert sie aus ihrer eigenen Vergangenheit. Jeden Tag wird in ihrer Redaktion ein Thema vorgeschlagen und umgesetzt, das zur Nutzer-Identifikation beiträgt. Inhalte also, die mittels Bildern, Fotos oder Statements persönliche Aspekte des Lebens aufgreifen. Eigentlich könne man so ziemlich alles wiederverwerten, so Sarah. »Süßigkeiten, Furbys, Filmmomente aus »Kevin – Allein zu Haus«, die Spice Girls, Big Brother, No Angels. All das, was die Bravo geschrieben hat, kann problemlos recycelt werden. Die Leute klicken das.« Ermüdungserscheinungen bei den Lesern kann Sarah bislang nicht bestätigen. »Dass ein Retro-Artikel funktioniert, erkennt man immer dann, wenn sich die Leute darunter taggen«, sagt Sarah. »Es macht schon Spaß zu sehen, dass man die Leute unterhält. Auch wenn ich nicht wirklich stolz auf die Storys bin.« Trash nennt man Artikel wie diese in der Journalismusblase mit einem gewissen Augenzwinkern. Dirty – weil sie weder einen klassischen journalistischen Mehrwert bieten, noch in der Produktion besonders aufwendig sind.
Mitte 2016 war »Pokémon Go« ein besonders beliebtes Thema. »Jeden Tag haben wir dazu etwas anderes gebracht. Kommentare dafür, Kommentare dagegen. Videos beim Spielen. Die Debatte um Pokémon-Lockmittel, die Spieler an bestimmte Orte bringen sollten.« In der App kann für Geld eine Art Köder gekauft werden, der für eine bestimmte Zeit Pokémon anlockt, die dann von allen Sammlern in der Nähe gefangen werden können. Geschäfte nutzten die sogenannten Lockmodule, um mehr Kundschaft anzuziehen und dabei up-to-date, niederschwellig und cool zu wirken – wer schnell war, polierte das Image seiner Marke mit den Aktionen nicht unwesentlich auf. Ende des Sommers war der Hype wieder vorbei, das marketinggerechte Revival eines Klassikers verkam zum verhassten Smartphone-Nervfaktor.
Welche Erkenntnis bleibt nach der Pokémon-Affäre? Im Marketing verkörpert die Vergangenheit ein wichtiges Mittel für das Erreichen von Unternehmenszielen. Sind Konsumentenbedürfnisse in irgendeiner Form mit der Vergangenheit verbunden, so wird diese laut der auf Marketing spezialisierten Forscherin Tina Kießling zu einem wesentlichen Ansatzpunkt für die Vermarktung von Unternehmensleistungen. Sie unterscheidet grob zwischen persönlicher und historischer Nostalgie. Einige Konsumentengruppen sind ausschließlich bezüglich ihrer eigenen Vergangenheit nostalgisch, andere verehren explizit eine nicht selbst erlebte Vergangenheit – zum Beispiel die 70er oder 80er. Auch, wenn sie damals noch gar nicht auf der Welt waren. Ein Paradox?
Diese historische Nostalgie lässt sich im Gegensatz zur persönlichen nicht mit den eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen. Sie beschreibt eine positive Einstellung gegenüber Objekten und Begebenheiten aus einer nicht selbst erlebten Vergangenheit.
Es gibt vielzählige Gründe, die die persönliche und historische Nostalgie eines Individuums erklären. Während sich manche ausschließlich aus dem Bedürfnis nach Wissen für eine Epoche begeistern, empfinden andere aufgrund des Wunsches nach sozialem Anschluss und hedonischer Freude eine Verbundenheit mit diesem speziellen Zeitraum. Es ist also ganz und gar nicht unüblich, vergangene Epochen zu verehren. Schließlich kann die Bewunderung für eine bestimmte Zeit früh zum Bestandteil der eigenen Identität werden, so Kießling.
Man denke nur an Menschen, die Vinyls aus den 60ern sammeln und diese stolz in ihren Regalen präsentieren. Unterschiede zwischen den beiden Typen gebe es dennoch: Während für persönlich-nostalgische Menschen die Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit eher eine Flucht vor Langeweile und temporärer Unzufriedenheit darstelle, schützen sich historisch-nostalgische durch ihre Zuwendung stärker vor Überforderung oder Werteverfall.
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