Die Nostalgie-Industrie. Warum ist gestern zum besseren Jetzt geworden?
Ob Flohmarkt-Mobiliar, »Gilmore Girls« oder »Pokémon-Go« – die Vergangenheit ist ein Symptom der Gegenwart. Wirft man einen Blick hinter die Retro-Maschinerie, kann das Flüchten in Dagewesenes nicht mehr als schlichter Ausgleich zu einer »schneller werdenden Welt« abgetan werden.
von Bianca Xenia Mayer»Früher war alles besser!« – Nur wann soll das gewesen sein?
»In unserer Zeit, in der alles überall und jederzeit verfügbar ist, ist nichts mehr besonders. Dadurch wirken tolle Entwicklungen manchmal wertlos und selbstverständlich«, so Michael Haller. Er ist Werbefilmer bei der Agentur Jung von Matt in Hamburg. »Dass jeder in Sekunden eine Nachricht nach Amerika schicken oder mit seinem Smartphone ein gestochen scharfes Bild machen kann, wird nicht mehr als Wunder gesehen, im Gegenteil. Heute schreibt man eine Nachricht nur per Hand, wenn sie eine besonders hohe Wichtigkeit hat.« Auch bei digitalen Fotos, so Haller, versucht man über Filter wieder einen analogen Look zu bekommen. Instagram hat das Konzept der Remeditation perfektioniert: Die Repräsentation eines älteren Mediums in einem neuen durch das Überlagern von Fotos mit traditionellen Filtern.
Während »Repro« die bloße Reproduktion oder Aufarbeitung alter bzw. vergangener Dinge bezeichnet, bedeutet »Retro« zumeist die Kombination von alten und neuen Elementen – beispielsweise Instagram-Filter im Polaroid-Stil. Zwei Begriffe, die oft verwechselt werden. Ob der Trend wieder vorübergeht? »Ich denke, dass es Retro immer geben wird«, so Haller. »Die fokussierten Dekaden werden sich lediglich abwechseln.« Der Zukunftsforscher Werner Mittelstädt schätzt, dass der Retro-Trend »noch fünf bis zehn Jahre anhalten wird.« Die Verklärung der Vergangenheit liegt laut dem Forscher auch daran, dass sich die Menschheit in einer Zeit des nie dagewesenen und unvorstellbar schnellen Wandels befindet. »Unstabile und unsichere Arbeitsverhältnisse gepaart mit einer angespannten politischen Situation sorgen dafür, dass sich Menschen nach einem Gefühl der Sicherheit sehnen. Sie suchen nach Stabilität und Einfachheit. Nach etwas, das sie bereits kennen.«
Unabhängig von der tatsächlichen Lage kann ein realistisches Gefühl für die Gegenwart verloren gehen – gerade dann, wenn die Zukunft seitens gewisser Medien als Dystopie gezeichnet wird.
Dass Konsumenten bewusst nach einer nostalgieerweckenden Werbung verlangen, glaubt Haller nicht. »Um ein Produkt auf der emotionalen Ebene an den Kunden zu binden, kann man den Hebel allerdings sehr wohl nutzen.« Laut Haller entsteht Nostalgie dann besonders stark, wenn etwas in der Zukunft unmöglich wird. Es ist der verstorbene Großvater, der jede Weihnachten die Kerzen auf dem Baum angezündet hat, weswegen sich das Fest nach seinem Tod nie wieder so anfühlen wird wie früher. Diese Szene kann man dann relativ problemlos in einen Werbefilm übersetzen. So ähnlich funktioniert auch der viral gegangene Edeka-Spot, in dem eine zerrissene Familie an einem gedeckten Weihnachtstisch wiedervereint wird. Der Clip verzeichnete bis heute 54 Millionen Views.
Nostalgie per se schlechtzureden, findet Haller falsch. »Allerdings muss man aufpassen, dass sie nicht die Gegenwart einnimmt. Das Gras war damals nicht grüner und es hat Gründe, warum man sich von seinem Partner getrennt hat. Nostalgie auf Produktebene ist da ungefährlicher. Das Cola in der Retro-Flasche schmeckt gleich wie das in der normalen und das Traumauto aus den 70ern sieht schön aus, schluckt aber 30 Liter. Es kann sein, dass man einen Fehlkauf macht, aber ansonsten ändert sich aus emotionaler Perspektive nicht viel.« Nostalgie, so Haller, wirke oftmals wie ein Filter, der Kleinigkeiten in der Vergangenheit eine riesen Bedeutung schenkt. »Sie ist es aber auch, die einen über schwierige Zeiten bringt und einen hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt.«
Anders als die medial geteilte Vergangenheit ist die private Nostalgie eine eher einsame Angelegenheit. Dass Menschen vor allem in traurigen Zeiten nostalgisch werden, kann als eine Art natürlicher Abwehrmechanismus gewertet werden. »Vergangene Zeiten«, schreibt Kießling in ihrer Forschungsarbeit, »bieten einen Zufluchtsort vor einer Reiz- und Rollenvielfalt und vor einer schnell wechselnden, als unpersönlich, wert- oder stillos empfundenen Gegenwart.« Werbung und journalistische Produkte können im effektivsten Fall für den gewünschten Wohlfühl-Effekt sorgen.
Obwohl es das Nostalgie-Konstrukt nicht erst seit gestern gibt, unterscheidet sich der omnipräsente Trend heute in einem wesentlichen Merkmal von den Gefühlen von damals. Teenager der 2000er haben ein mächtiges Werkzeug, um anderen ihre Emotionen und nostalgische Momente zugänglich zu machen: Das Internet. Auf Social-Media-Kanälen wird das Ich nach außen getragen und durch das geprägt, was es online teilt. Memes, Videos und Artikel über alte Serien haben jeden Tag die Chance, ihr virales Potenzial zu entfalten.
Marie hat sich heute Abend mit zwei Freunden verabredet, sie wollen die neuen Folgen von »Gilmore Girls« streamen. Die erste Folge ist erschienen, als Marie sechs war. Den Countdown, den verschiedenste Medien auf Social Media gefahren haben, hat sie genervt. »Jede Seite hatte ein Quiz über das Liebesleben von Lorelai. Das ganze Internet war voll damit.« Und nicht nur das: Am 5. Oktober verwandelte Netflix mehr als 200 Cafés in den USA und Kanada in »Luke’s Diner«. Eine Werbemaßnahme wie aus dem Lehrbuch.
Filme via Fire Stick streamen – aber gleichzeitig Angst vor Amazons Macht haben. Wohnen wie die eigenen Großeltern – und dabei in Echtzeit via Twitter informiert werden. Es macht den Anschein, als hätte die westeuropäische Bevölkerung im vergangenen Jahrzehnt genug Technik gesehen, um sich wieder nach lackierten Möbeln der Nachkriegszeit zu sehnen. Dort, wo in den frühen 2000er-Jahren Mittelschichtskinder nach dem neuesten Nokia-Modell schrien, steht heute ein Biedermeier-Schrank auf dem Wunschzettel. Ein schlichtes Prestigeobjekt, das im Überfluss des Postkapitalismus auffällig nach Bildung und Expertentum riecht. Die alte Regel gilt also immer noch: Anders zu sein, als die anderen – selbst wenn es bedeutet, sich durch historische Nostalgie soziale Anerkennung zu erschleichen.
Trotz aller Bemühungen schafft die permanente Wiederbelebung und Imitation der Vergangenheit lediglich eine kurzzeitige Verblendung. Fakt ist: Es gibt sie nicht, die gute alte Zeit. Zumindest nicht so, wie sie das gängige Narrativ darstellt. Kein Sepia-Filter, keine italienische Karottenhose, keine Fuji-Sofortbildkamera in Neuauflage und kein lieblos programmiertes Pokémon-Revival wird sie den Menschen zurückbringen.