Die Quadratur der schwarzen Kreise

Wie viel ist ein Expedit? Über die Unsterblichkeit von Vinyl, Pressspan-Möbeln, die vermeintliche Monofunktionalität demokratischen Designs, formvollendete Sammlerleidenschaft, das Zeitalter vor und nach der Compact Disc und die Maßeinheit der Plattensammler.

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Was ist das? Es ist 185 cm lang, ebenso breit, und 39 cm tief. Das Tor zur Hölle? Der Adventkalender von Hermann Maier? Die große, gelbe Weichmatte aus dem Turnunterricht? Nein, viel einfacher, liebe Mediengeneration, viel vertrauter. Die Rede ist von einem Möbelstück, das es eigentlich gar nicht mehr gibt, oder geben sollte. Und es ist nicht zuletzt dieser Umstand, der seinen Charme ausmacht. Der Charakter einer bedrohten Art gepaart mit einer scheinbaren Unverwüstlichkeit. Kurz, die Rede ist von einem Plattenregal, einem Regal für Schallplatten!

DJ’s Choice

Genauer gesagt geht es hier um ein ganz bestimmtes Plattenregal. Und eigentlich ist es ja ein Bücherregal von Ikea. Wegen der Maße seiner Regaleinheiten und seiner Tragfähigkeit ist es aber für die formschöne Lagerung von LPs wie geschaffen. Genau, das Expedit ist gemeint – das große mit 25 Fächern, nicht das kleine mit 16. Tord Björklund hat es 1995 entworfen und seither ist es ein Klassiker des schwedischen Möbelriesen. Und sieht man sich in den Wohnzimmern heimischer DJs und Musikliebhaber um, so scheint das Expedit dort bereits zum guten Ton zu gehören. Ein Archiv in Buchenoptik oder weiß.

Schon der Name deutet auf Ordnung und Übersicht hin und verweist auf die Inspiration des Designers in der Praxis von Versandabteilungen und Postämtern. Funktionalität, Symmetrie und Schlichtheit, die sich hier formschön zusammengefunden haben, erklären denn auch den Ursprung des Namens aus dem Lateinischen: der Nützliche, der Herbeischaffende …

Björklund sagt: „Ich wollte eine einfache und selbstverständliche Form schaffen, mit einem spannenden Kontrast zwischen dem schweren Rahmen und den leichten Zwischenteilen und Regalböden.“

Kunstobjekt mit Raumbedarf

Aug’ in Aug’ mit so einem analog befüllten Riesen packt einen die Ehrfurcht. Nicht unbedingt vor der Menge, die einen erschlägt, oder dem spleenigen Sammelwahn, der dahinter stecken muss, sondern in erster Linie vor der zeitlosen Ästhetik, die ein gut sortiertes Plattenregal darstellt. Im Frankfurter Museum für moderne Kunst stand vergangenes Jahr genau so ein mit 2000 Platten befülltes Regal. Die deutsche Medienkünstlerin Sandra Mann hat es installiert. Tausende schmale Rücken lehnen dort und geben dem Skelett aus Holz, das sie umgibt, einen imposanten Körper. Dazu trägt das Design des Expedit natürlich das seine bei. Schon die Ausmaße dieses Monolithen sind so gewählt, um Jahrhunderte der Musikgeschichte tragen zu können. Und das in Zeiten von go cubic, in denen Normalsterbliche Platz für Musik nur noch auf der Festplatte vorgesehen haben. Vinylfetischisten aber sind anders, und das Expedit zeigt Verständnis dafür. Es versucht gar nicht platzsparend, multifunktionell oder flexibel zu sein. 31,4 cm im Quadrat groß ist eine Schallplatte mit Hülle und zwei Fingerbreit größer ist eine der 25 Regaleinheiten.

„Die Alten und Schwachen zu ehren …“

Diese Monofunktionalität wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas starr – ist es aber nicht. Hier hat nur etwas zu seiner Form gefunden, was sich ohnehin nicht mehr verändert. Die Schallplatte hat sich vom geläufigen Unterhaltungsmedium zum exotischen DJ-Tool entwickelt und ist von dort zurück zu neuem Status erstarkt. Als solche hat sie ihre mediale Entwicklung abgeschlossen und sich einen würdigen Platz gesucht. Dass es den im „demokratischen Design“ von Ikea gefunden hat, ehrt die Skandinavier und ist Hinweis auf die medienpolitische Bedeutung reifer Medien. Was sein Ziel erreicht hat, muss nicht ersatzlos erneuert werden, sondern darf in die Breite wachsen, bietet Möglichkeiten und Herausforderungen. Der state of the art hat sich aber nicht auf das Vinyl beschränkt. Darin besteht auch der Unterschied zu Plattenregalen der Prä-CD-Ära. Wo die vielen frühen Sammlungen temporäre Erscheinungen waren, im Einzelnen meist weit weniger umfangreich als die wenigen heute und stets die digitale Umstellung vor Augen, können heutige Kollektionen in Weisheit zurückblicken und wissen, dass sie unerschütterlich sind. Ihren erkämpften Platz auf 185 mal 39 cm Grundfläche wird ihnen keiner streitig machen.

Eine neue Maßeinheit

In dieser Unsterblichkeit des Gesamtkunstwerks Plattensammlung ist nun ein seltenes Phänomen zu beobachten. Eine Erhöhung des Expedit zum Etalon. Eben, weil das Expedit Standard geworden ist, erwächst das Möbel immer mehr zur neuen Maßeinheit für Plattenfreaks. Ein Expedit (E) entspricht 2000 LPs i. V. (in Verwendung) bzw. 2500 LPs a. A. (als Archiv) – je nachdem ob man’s lieber voll oder locker gefüllt mag/braucht. Ab einem E kann man mitreden. Respekt kann man sich aber erst ab dem zweiten erwarten. Während das erste E zumeist in jahrelanger Kleinarbeit zusammengekauft wurde, brauchten die Befragten für das zweite E wesentlich kürzer. Und nur die wenigsten kommen über die 2,5 E hinaus. Wobei sich Besitzer von nur einem E hingegen meist in Selbstbeschränkung üben, dafür aber durch besondere Qualität auffallen.

An Nicht-Eingeweihten geht dieser Vinyl-Kauderwelsch zumeist unbeachtet vorüber. Zu erleben ist er besonders bei Plattenbörsen oder auch Übersiedelungsaktionen der Betroffenen. Ein E muss schließlich erst einmal bewegt werden, denn das sind 91 kg Regal und 500 kg Schallplatten. Das E-Maß nimmt uns zwar keine Arbeit ab, erleichtert aber die Kommunikation darüber. Die Frage „Hilfst du mir meine zwei E zu übersiedeln?“, muss auf jeden Fall mit „Nein“ beantwortet werden!

Erwähnt sei noch, dass Maßeinheiten, sind sie erst einmal etabliert, im Allgemeinen erhalten bleiben. Das lehren uns über 5000 Jahre Menschheitsgeschichte und Normbedürfnis. Damit sich das Expedit in eine Reihe stellen kann mit der Nippur-Elle und dem megalithischen Yard, wird Ikea gut beraten sein, diesen Klassiker im Programm zu behalten.

Verehrung und …

Ein Namensvetter des Expedit hat es immerhin schon zur Heiligenverehrung gebracht. Als im 17. Jahrhundert auf La Réunion eine Kiste aus Rom eintraf, trug diese die Aufschrift „espedito“, also Versand. Die ansässigen Nonnen hielten das für den Namen eines Heiligen und benannten nun den nach der einheimischen Voodoo-Tradition blutrot angestrichenen Schrein nahe ihres Klosters nach ihm. Den Hindus auf La Réunion gilt Expedit als Inkarnation ihres Gottes Vishnu, muslimische Inder auf der Insel verehren die Expedit-Schreine wie Sufi-Schreine in ihrer Heimat.

… Erforderlichkeit der Form

Verehrung und Götzendienst wird auch hierzulande gepflegt und bezieht jene schöne Stellage gleich mit ein. Schnörkel und Anbauten sind verpönt, und den Kataloghinweis auf die Kompatibilität mit den Schubladen eines anderen Regals überliest man am besten. Die Formenreinheit der LP soll auch beim Möbel weitergehen. Klar, dass diese Schreine nicht durch Topfpflanzen, Ü-Ei-Figuren oder ähnliche Gotteslästerlichkeiten entweiht werden dürfen. Das war allerdings auch lange vor dem Expedit so. In diesen wilden Zeiten waren Plattenregale oft noch ein Abenteuer für sich. Wer sein Vermögen in Platten investierte, musste halt bei der Trägersubstanz sparen und sich die Teile, ganz Punkrock, auf der Baustelle zusammenklauen. Die Variante Ziegelstein und Brett wurde auf die Art fast zu einem Klassiker. Zugegeben, der so entstandene Zusammenprall von Anarchie und Ordnungswut hatte seinen Reiz. Für den Vinylfetischisten hört sich aber der Spaß auf, wenn durch unvorteilhafte Lagerung Schäden an Cover oder gar Tonträger auftreten.

Ob das Teil nun zum Altar der Kulturgeschichte erhoben wird oder schlicht seinen Zweck erfüllen soll, am Expedit scheint heute kein Weg vorbeizuführen. Der Vorwurf, Relikt der Fortschrittsverweigerung zu sein, ist jedenfalls entkräftet. Die Heimdiskothek ist ein Repräsentationsobjekt, das Würdigung einfordert und erhält. Und das wunderbare ist, kein Hype oder Kommerzialisierungsversuch wird sie je entwerten. Denn ein E ist mehr als die Summe seiner Teile.

Mehr über das Expedit unter www.mmk-frankfurt.de und www.ikea.at. Plattenflohmärkte finden jeden ersten zweistelligen Mittwoch im Wiener NIG und jeden letzten Sonntag im Monat im B72 statt.

Bild(er) © IKEA / The Gap
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