„Die Wiener Kunstszene ist völlig unterbewertet“

Der britische Bildhauer, James Lewis, lebte und arbeitete bereits in London und Paris, bevor er nach Wien kam, um sein künstlerisches Schaffen fortzusetzen. Derzeit stellt er seine Werke in der Galerie Hubert Winter aus. Zeitgleich entdeckt er in Wien, eine florierende Kunstsszene, die ihn zum Bleiben überzeugte.

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„Hyle“ – Der Urstoff, die Materie. In Anlehnung an die philosophischen Gedanken des Aristoteles, beschreibt „Hyle“ das Unbestimmte, das die Möglichkeit zu Allem besitzt, aber erst durch menschliches Zutun, eine Form erhalten kann. Der Ton, in der Metaphysik, dem Boden zuzuordnen, ist ein leidensfähiges Material, welches in naturfeuchtem Zustand plastisch wirkt. Der Künstler James Lewis denkt mit seinen Händen und formt Objekte, welche sich aus seinen persönlichen Erinnerungen nähren und in Beziehung zueinander stehen. Seiner Kunst fügt er organische Materialien, wie Pilze hinzu, um sie für skulpturale Zwecke einzusetzen. Sein Material erfährt keine Konservierung und wird so zum Träger einer Ästhetik des Flüchtigen. James Lewis aktuelle Arbeiten inszenieren einen möglichen Verfall und stehen so in Widerspruch von Vergänglichkeit und Dauer. Im Gegensatz zu seiner Kunst, entwickelt Lewis ein dauerhaftes Verhältnis zu Wien und hat die Stadt mittlerweile zu seiner neuen Heimat gewählt.

Du lebst und arbeitest aktuell in Wien. Davor hast du dich in London und auch Paris aufgehalten, zwei bedeutende europäische Metropolen, besonders hinsichtlich ihrer regen Kunstentwicklung. Was führt dich nun nach Wien?

Ich kam nach Wien im Rahmen des Curated By Festivals. Dabei habe ich auch Bekanntschaft mit Hubert Winter und seiner Galerie gemacht. Hubert Winter und ich haben uns gleich von Beginn an sehr gut verstanden. Wir haben ähnliche Interessen und eine gemeinsame Affinität zu medizinischen Artefakten. Wir haben einen Dialog gestartet, und stellten uns der Frage, wie ein Mensch die Welt wahrnehmen würde, wenn er gewisse Sehbeeinträchtigungen hätte. Dies führte zu Fragen der Realität, ab welchem Zeitpunkt Realität entsteht, wann etwas real wird oder als Realität fixiert wird. In meiner aktuellen Arbeit geht es sehr stark um den Begriff der „Verzerrung“. Ich habe mich zunächst entschieden zu bleiben, um mit Hubert Winter zusammenzuarbeiten. Schon bald merkte ich aber, dass ich eine längere Zeit in Wien verbringen möchte. Wien mag nicht den internationalen „Flair“ von Paris oder London besitzen, aber das ist auch völlig in Ordnung.

Welche Vorteile ergeben sich für dich als Künstler in Wien?

In Wien fühle ich mich frei. Ich fühlte mich nicht frei in Paris und auch nicht in London. Paris und London sind sehr teure Städte, die zudem viele sozioökonomische Probleme aufweisen. Sie leiden an Nationalstolz. Ich sehe diesen Nationalstolz noch nicht in Wien. Zudem ist die Stadt leistbar und sehr angenehm.

Wenn wir von Wien als leistbare und angenehme Stadt sprechen, stellt sich die Frage, ob Wien die Menschen faul werden lässt?

Ich denke nicht. Natürlich ist es sehr leicht hier in Wien zu überleben. Dadurch können Menschen ihren Antrieb verlieren. Viele Künstler, die ich in Paris und London getroffen habe, sind sehr ambitioniert, doch alles was sie tun, ist arbeiten. Ja, Wien ist eine gemütliche und auch sehr günstige Stadt, doch ich bin eher neugierig und weniger faul. Für mich funktioniert die Stadt sehr gut. Würde ich mich in London aufhalten, dann müsste ich drei unterschiedliche Jobs machen, um überhaupt überleben zu können, um mir überhaupt ein Studio für meine Kunstproduktion leisten zu können. Das ist kontraproduktiv für meine Ambitionen und meine weitere Karriere. Die Stadt erlaubt es mir, mich völlig auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Kannst du in Wien eine junge Kunstszene verorten oder Wien als bedeutende Stadt für eine zeitgenössische Kunstentwicklung definieren?

Es zeigen sich aktuell einige Entwicklungen in der Wiener Kunstszene, die einiges verändern werden. Ich halte die Wiener Kunstszene für völlig unterbewertet. Wien mag zwar einen sehr traditionellen Charakter haben und das betrifft in gewisser Weise auch die Wiener Kunstszene. Hubert Winter ist beispielsweise bekannt dafür, dass er in den 1970er Jahren amerikanische Künstler nach Wien brachte. Er unterstützt seit geraumer Zeit auch österreichische Künstler. Mit mir geht er ein gewisses Risiko ein, da ich mich stark von jenen Künstlern unterscheide, mit denen er sonst zusammenarbeitet. Aber für mich ist dies ein Zeichen einer neuen Entwicklung. Andere, lang bestehende Galerien in Wien, scheinen stehen zu bleiben. Aber die junge Kunstszene in Wien bewegt vieles weiter. Derzeit eröffnen viele neue Kunsträume, „Project Spaces“ und neue Galerien. Ich habe diese besucht und finde Orte wie „Kluckyland„, „Future Zwei“ oder „Vin Vin“ sehr aufregend. Orte wie diese werden einen großen Einfluss haben und es wird sich dadurch etwas radikal in der Kunstszene in Wien verändern. In diesem Zusammenhang spielen auch die leistbaren Lebensbedingungen in Wien sowie das Bildungssystem eine Rolle.

Wie unterscheidet sich dies von der Kunstszene in London?

Alles passiert in gewissen Zyklen. London, aber auch Paris haben gewisse Zyklen schon durchgemacht. In Wien zeigt sich jetzt ein erster Zyklus. In London passiert zudem soviel, dass es schwierig ist zu sagen, was interessant oder relevant sein wird. In Wien ist dies viel überschaulicher. In London ist schon alles passiert und Wien fängt gerade erst an. Das macht Wien so spannend.

Du hast einen Gastvortrag an der Akademie der bildenden Künste abgehalten. Welches Verhältnis hast du zu Bildungseinrichtungen der Kunst?

Ich halte die Akademie für einen sehr inspirierenden Ort. Eine Kunstinstitution wie diese habe ich davor noch nicht kennengelernt. Ich sprach bereits von einem Nationalstolz in anderen Städten, dieser Nationalstolz ist natürlich auch institutionalisiert. In Frankreich werden junge Künstler gefördert, was problematisch sein kann und mit einer gewissen Exklusivität sowie einer nationalen Identität verbunden ist. In Wien, und besonders an der Akademie der bildenden Künste sehe ich die Studierenden als frei. Ihre Bildung gründet auf Raum und Zeit. Sie haben die Zeit zu denken und den Raum, um sich künstlerisch zu entfalten. Jede Ausbildung, die Raum und Zeit beschränkt ist sinnlos und lächerlich. Die Akademie zeigt eine Mentalität, welche sich fern von Tradition bewegt. Es hat nicht dieses Prestige, der eng mit Status verbunden ist. Es liegen keine zwanghaften Erwartungen auf einer Kunstproduktion, sondern ein Fokus auf die persönliche Entwicklung der Studenten. Die Kriterien hier sind viel offener als jene an französischen Kunstuniversitäten. Zudem ist die Akademie sehr praxisorientiert. Ich möchte mir auch bald die Universität für angewandte Kunst ansehen.

Beschreibe deine aktuellen Arbeiten, für die Ausstellung in der Galerie Hubert Winter.

In meiner aktuellen Einzelausstellung beschäftige ich mich mit vielen Dingen, mit denen ich mich bereits in meiner Vergangenheit beschäftigt habe. Es existiert eine Form der Wiederholung, so greife ich beispielsweise immer wieder auf spezifische Materialen zurück, mit denen ich gerne arbeite. Ich wähle gerne Ton und Beton. An diesen beiden Materialen gefällt mir besonders der Gedanke, dass diese etwas permanentes aber auch Vergängliches inne haben. Mir gefällt die Idee, dass etwas, dass geschaffen werden kann, wieder zu Staub werden könnte. Ton und Beton sind Materialen, die mir die Möglichkeit geben, Spuren einer Bewegung in ihrer Struktur zu hinterlassen. Die Ausstellung präsentiert einen plastischen Moment, vor der Struktur der Materie. Ein Moment, in dem die Dinge noch „sterben“ können. Ein Zustand, in dem Erinnerungen mit einem Virus infiziert werden können und durch Verzerrung entstellt werden.

Hast du immer völlige Kontrolle über deine Kunstproduktion?

Dinge passieren natürlich einfach, wenn man so arbeitet, wie ich es tue. Ich würde sagen, ich habe zu 80 Prozent Kontrolle über mein künstlerisches Schaffen. Den restlichen 20 Prozent, ist es erlaubt sich zu verändern. Doch etwas zu erlauben, bedeutet auch Kontrolle. Es mag zwar unkontrolliert wirken, aber ich weiss, was passieren wird. Zudem ist es mir wichtig, dass jene Menschen, die meine Kunst betrachten, denken, es könnte einen Moment des Chaos geben.

Wie geht es bei dir weiter nach dieser Ausstellung?

Ich werde im August eine weitere Ausstellung in Prag zeigen. Die Ideen, welche ich für die Galerie Hubert Winter entwickelt habe, werden in diese kommende Ausstellung weitergetragen. Danach möchte ich weitere Ideen in meinem Studio entwickeln, bevor ich mit meinen Werken wieder an die Öffentlichkeit gehe. Neben meiner Ausstellung in der Galerie Hubert Winter, kann man aktuell auch Arbeiten von mir im Projektraum „Future zwei“ in Wien sehen.

„Before the Hyle“ ist ab 30. Juni bis zum 25. August in der Galerie Hubert Winter, Breite Gasse 17, 1070 in Wien zu sehen. Ab August zeigt James Lewis „End of Agony“ in Futura: Karlin Studios in Prag. In Paris wird der Künstler von der Galerie Joseph Tang vertreten. Lewis lebt und arbeitet in Wien und Paris.

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