Village People

Die 23-jährige Niederösterreicherin Vea Kaiser porträtiert in »Blasmusikpop« ein kleines Bergdorf und seine vom Lauf der Zeit verschont gebliebenen Einwohner. Im Zentrum ein Held, der dort nicht hinpasst, obwohl er trotzdem anachronistisch entrückt ist. Bestselleralarm.

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Es ist nicht gerade ein alltäglicher Anblick, wenn sich über 50 Buchhändler aus ganz Österreich im Hinterzimmer einer Altwiener Gastwirtschaft einfinden. Einem gastronomischen Traditionsort, dem man merklich ansieht, dass sich über die Jahre Gulasch- und Schnitzeldämpfe, Spritzer- und Bierrülpser ins Holz gefressen haben. Was sie in dieser Dichte dort hintreibt? Eine Lesung.

Dass dies eine Lesung aus dem unveröffentlichten Erstlingswerk einer nahezu unbekannten Jungautorin sein wird, macht die Zusammenkunft nicht unbedingt gewöhnlicher. Ebenso, dass man noch nicht sonderlich viel vom aufgehenden Literaturstern weiß. Geburtsjahrgang 1988, einige Stipendien und ein Studium der klassischen und deutschen Philologie sind in der Mini-Biografie angegeben. Ach ja, den Buchtitel kennt man natürlich auch: »Blasmusikpop«. Das Buch jedenfalls, da ist sich der deutsche Verlag vorab ziemlich sicher, ist ein »furioses Debüt«, ein »großer Roman über ein kleines Dorf«. Ähnliche Sätze stehen bald einmal wo drauf. Hier wurde aber, abgesehen von literarischer Qualität, nach eingehender Prüfung wohl auch weiteres Vermarktungspotenzial gesichtet. So etwas führt zu einem kräftigeren Rühren der Werbetrommel als üblich. Inklusive Lesungen vor Buchhändlern, die ja gemeinhin als vertrauenswürdige Personen gelten und nicht selten in persönlichen Beratungsgesprächen den kaufentscheidenden Ausschlag geben. Auftritt Vea Kaiser.

Eine bunter Haufen

Die hoch gewachsene, schlaksige Dame im kurzen Rock und mit langem Haar wird gleich persönlich. Sie habe am heutigen Tag ein sehr wichtiges Examen in Altgriechisch verhaut, erzählt Kaiser. Das, vor allem aber wie sie sich im Moment fühlt, erinnere sie sehr deutlich an ihren Romanhelden Johannes A. Irrwein. Dieser ist ein Musterschüler, hat aber seine Geschichte-Matura versemmelt. Deshalb hat sich Kaiser entschlossen, diese für Buch und Handlung sehr wichtige Passage an diesem Abend ihrem Publikum vorzusetzen und es damit persönlich in den Mikrokosmos ihres Romans einzuführen.

Ein kunterbunter Mikrokosmos übrigens, randvoll mit funkelnden Einfällen und aberwitzigen Episoden aus dem Leben eines Bergdorfes und seiner Einwohner. St. Peter am Anger heißt das nicht einmal 500 Einwohner zählende Kaff auf einem Hochplateau in den fiktiven Sporzer Alpen, das in »Blasmusikpop« porträtiert wird. Dort wimmelt es von komischen Käuzen, die einem doch so unheimlich bekannt vorkommen. Da führt etwa eine übergewichtige Bürgermeisterdynastie Wort. Ein machtsüchtiger Großbauernclan verstärkt seinen Einfluss durch gezielte Heirat. Eine hierarchisch gegliederte Mütterrunde will sich nicht nur beim Kinderkriegen und Kuchenbacken übertrumpfen. Das Leben verläuft zwar in geordneten Bahnen, dennoch ist alles ein wenig neben der Spur.

Der Bergdoktor

Mit Ironie, vor allem aber mit Liebe fürs Skurrile, geht Kaiser dabei zu Werke. Und obgleich die anklagende Härte des Anti-Heimatromans ihre Sache nicht ist, es wird nichts beschönigt und schon gar keine heile Welt herbeigeschrieben. Es ist, wie es ist, und es ist halt so. »Es gibt ja in der österreichischen Moderne die Tradition des Dorf-Bashing. Das sind Texte, die kann ich nicht lesen. Ich mag auch kein Schwarz-Weiß-Denken. Ich mag es lieber bunt. Darum dürfen auch meine Figuren bunt sein«, sagt die Niederösterreicherin, die in »Blasmusikpop« vordergründig drei Generationen von St. Peterianern porträtiert.


Dabei setzt Vea Kaiser Ende der 1950er Jahre ein, als sich Johannes Gerlitzen, ein kaum 20-jähriger Berufsschnitzer, einen Bandwurm einfängt und daraufhin Arzt werden will. Das schafft er auch, beäugt aber nach seinem Studium das Treiben in seiner Heimatgemeinde mit der kühlen, rationalen Distanz der Wissenschaft und mit einer leidenschaftlichen Verachtung, wie man sie nur ehemals Geliebtem entgegenbringen kann. Nach dem Tod seiner Frau bringt der Bergdoktor seine Tochter alleine durch die Pubertät. Dass diese mit Alois Irrwein den trinkfesten Dorfdraufgänger ehelicht, sorgt für weiteres Konfliktpotenzial. Erst als der Ehe der heiß ersehnte Sprössling Johannes A. Irrwein entspringt, entspannt sich die Lage. Der hochbegabte, wissensdurstige Doktor-Enkel passt aber so gar nicht mehr ins Dorfschema …

Liebe zur Antike

Ab hier zaubert die 23-Jährige eine hochalpine Coming of Age-Story aufs Parkett und treibt den jungen Sonderling Johannes durch die Wirren der Dorfgeschichte. Die übermenschliche Liebe Johannes’ zur Antike im Allgemeinen und seine kultische Verehrung für den griechischen Geschichtsschreiber Herodot im Besonderen macht sich Vea Kaiser dabei stilistisch zu Nutze. Jedem Kapitel ist ein von Johannes verfasster, historischer Bericht vorangestellt, der die Geschichte des Dorfes von seiner Besiedelung über die Völkerwanderung, Christianisierung, Reformation, Gegenreformation bis hin zu den Weltkriegen erfasst. Sprachlich und typografisch vom Rest des Buches abgehoben. »Ich wollte, dass diese Episoden ein wenig holprig klingen – so als übersetze man Herodot ins Deutsche«, erzählt Vea Kaiser über diese einleitenden Petitessen, die Struktur in ihren Roman bringen.

Die Niederösterreicherin teilt mit ihrem Helden Johannes A. Irrwein übrigens die Liebe zur Geschichtsschreibung und der griechischen Antike. »Ab 1000 vor Christus wird es für mich interessant. Das ist der Zeitpunkt, bei dem mein Denken einsetzt«, erklärt Kaiser, die ein Jahr an der renommierten universitären Schreibschule Hildesheim verbracht hat, dort aber schnell bemerkte, dass der unterrichtete und vermittelte Literaturbegriff nichts für sie ist.

Sprachvermittlung

Fasziniert ist Vea Kaiser auch von Dialekten. Ihren Dorfbewohnern verpasste die Autorin, deren Debüt demnächst auch ins Tschechische übersetzt wird, gar eine eigene Sprache. Mit Beratung ihres Linguistik-Professors erarbeitete sie Merkmale und Gemeinsamkeiten der bayrischen Dialekte und formte daraus einen derben Kunstdialekt, der erheitert. »Hey Peppi, was ham a Gummi und a Sarg g’meinsam?« »In beiden steckt a Steifer?« »Owa woaßt, wos da Unterschied zwischen dem Steifen im Olla und dem Steifen im Holzpatschen ist?« – »Woaßt eh, da ane kummt, da andre geht. Servas!« Norddeutsche Leser, das versichert Kaiser, die sich die Frage auch selbst schon gestellt und positiv beantwortet bekommen hat, finden die sprachlichen Ausritte ins Bayrische charmant und exotisch. So sehr, dass bereits vor Verkaufsstart des Buches eine zweite Auflage gedruckt worden ist. Und die Österreicher?

Nun, die Abordnung der Buchhändler im Wiener Wirtshauszimmer hatte jedenfalls keine Verständnisprobleme. Im Gegenteil – vielmehr wollte man nach dem Ende der kurzen Lesung im Dorf und in der dort verwendeten Sprache seine eigene Region wiedererkannt haben. Willkommen in der Welt von »Blasmusikpop«, dort wo die Luft noch sauber ist, die Kühe gesund sind und von Vereinnahmung noch Zauber ausgeht.

»Blasmusikpop« von Vea Kaiser ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Ein ausführliches Interview mit ihr über Homer und Vergil, über St. Anger und wie es wäre auf einer Kuh in den Sonnernuntergang zu reiten, gibt es hier. Sechs gute Gründ das Buch zu lesen, hat Thomas Weber hier hingeschrieben.

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