Meilensteine teilen die Geschichte in ein Vorher und ein Nachher, zeigen neue Wege oder eröffnen ganz neue Möglichkeiten und Richtungen. Das Indie-Game-Experiment »Dear Esther« ist so ein Meilenstein, vor allem, weil es eine grundlegende Frage stellt: Was ist ein Spiel?
Eine einsame Küste, der dramatisch verhangene Abendhimmel taucht die raue Landschaft in ein unwirkliches Licht. Hinter uns der Atlantik, vor uns die sturmzerzausten Hänge einer felsigen Hebrideninsel, irgendwo vor Schottlands Westküste. Weit hinten, hoch oben blinkt das rote Licht eines Radiomastes. So beginnt »Dear Esther«. In der aus First-Person-Shootern bekannten Egoperspektive bewegen wir uns im langsamen Spazierschritt durch diese unwirtliche Landschaft, folgen den Trampelpfaden durchs Heidekraut und steigen schließlich in die surreale Höhlenwelt dieses Ortes hinab, um schlussendlich den höchsten Punkt der Insel, den weithin sichtbaren Radiomast mit seinem Warnlicht, zu erreichen.
Es gibt keine Waffen, keine Gegner und keine Rätsel in »Dear Esther«, und auch der freien Erkundung sind recht enge Grenzen gesetzt. Trotzdem zieht das Indie-Games-Experiment den Spieler in einen Bann aus Melancholie, Traurigkeit und Euphorie. Aus dem Off begleitet uns die Stimme eines Erzählers, der aus einem Brief an die titelgebende Esther, aus alten Tagebüchern und Berichten vorliest. Zum Teil wird diese fragmentarische Erzählung an bestimmten Punkten des Entdeckungsspaziergangs vorangetrieben, zum Teil ertönen die kurzen Textpassagen zufällig und regen den Spieler an, die unwirkliche Welt mit anderen Augen zu sehen. »Dear Esther« ist ein Spiel, das hauptsächlich im Kopf des Spielers entsteht. Denn aus den bruchstückhaften Texten schält sich nur langsam die Geschichte eines tragischen Verlusts heraus; es bleibt offen, ob die Wanderung, die der Spieler unternimmt, vielleicht der Versuch eines Abschieds ist, ob die Insel selbst eine Gedenkstätte ist oder aber sogar nur der Erinnerung selbst Form gibt. Staunend wandert man durch diese atemberaubend in Szene gesetzte Landschaft, die mit der Erzählung verschränkt ist. Begleitet wird man vom hervorragenden, subtilen Piano-Soundtrack von Jessica Curry, bis die Wanderung selbst, von der Küste bis zum finalen höchsten Punkt der Insel, von einer Erkundung zur Meditation in Spielform geworden ist.
Interaktives Storytelling-Experiment
Nach knappen 90 Minuten ist man auch schon am Ende angelangt – und bleibt seltsam berührt zurück. Dass hier im Medium Games mit derartiger Eleganz etwas Neues unternommen wird, führt fast automatisch zu einer Frage: Ist »Dear Esther« überhaupt noch ein Spiel – oder nicht eher eine interaktive Installation? Ein Hörspiel zum Drin-Spazierengehen? Videospiel-Tourismus? Tatsächlich lässt das interaktive Storytelling-Experiment, das erstmalig 2008 von Macher Dan Pinchbeck von der Universität Portsmouth als Mod für »Half-Life 2« und nun grafisch auf Hochglanz poliert als Standalone-Titel veröffentlicht wurde, fast alle »klassischen« Spielelemente vermissen. Die von der belgischen Art-Games-Schmiede Tale of Tales (»The Path«) geprägte Schublade der »Not-Games« ist für Spiele wie »Dear Esther« entworfen worden – für Experimente mit dem Medium, die nicht unbedingt »Spaß« als oberste Prämisse haben. Eigentlich ist es aber schade, »Dear Esther« auf diese Art per definitionem aus dem Medium Games zu reißen.
Was ist ein Spiel? »Dear Esther« gibt auf diese Frage eine originelle Antwort, die man so noch nicht gehört hat, und es zeigt, wie das Medium Games ein neues Erzählen ermöglichen kann. Es beweist, wie professionell, selbstbewusst und abwechslungsreich die blühende Indie-Games-Szene inzwischen geworden ist. Der Eintrittspreis in das kurze, aber unbedingt für aufgeschlossene Spieler aber auch Skeptiker empfehlenswerte Erzähl-Experiment liegt bei 7,99 Euro. Ansehen lohnt sich: “Dear »Dear Esther« ist ein Meilenstein – denn es zeigt, was Spiele auch sein dürfen.
»Dear Esther« für Windows / Mac ist bereits via Steam erschienen.