Vom Gemüseladen zum Musikmarkt – Eine kurze Geschichte der Gastarbeiter*innenmusik

»Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.« Dieses bekannte Zitat von Max Frisch beschreibt die einseitige Wahrnehmung von Gastarbeiter*innen von der Nachkriegs- bis in die Jetztzeit. Unter ihnen waren auch Musiker*innen, deren Kunst dem kollektiven Gedächtnis der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft bis heute weitestgehend unbekannt ist.

© Heinrich Klaffs — Ein seit den 60er-Jahren bekanntes Bild: die Abreise in ein neues Leben

In den 1960er-Jahren kamen sie: die ersten Gastarbeiter*innen. Größtenteils Männer, aber auch Frauen, die ihre Familie, ihre Geliebten und das ihnen Vertraute in ihren Herkunftsländern zurückließen. Sie verbrachten ihre Jugend in Fabrikshallen. »Als Schweißer, als Hilfsarbeiter, als Drecks- und Müllarbeiter. Stahlbau- und Bandarbeiter. Sie nennen uns Gastarbeiter«, singt Ozan Ata Canani, der als Sohn eines türkischen Gastarbeiters in Deutschland aufwuchs, im Song »Deutsche Freunde«.

Die ankommenden Menschen brachten ihre Arbeitskraft, aber eben auch ihre Musik mit. Zu Beginn vor allem türkische Volkslieder, später auch anatolischen Pop mit westlichen Einflüssen. Dass diese Musik bis heute ein Community- beziehungsweise Untergrundphänomen darstellt und erst dank motivierter Schatzsammler Jahrzehnte danach an die breite Öffentlichkeit gelangte, hat auch politische Gründe. Der Münchner Regisseur, Schauspieler und Musiker Bülent Kullukçu, der gemeinsam mit İmran Ayata 2013 das Album »Songs of Gastarbeiter Vol. 1« beim Label Trikont veröffentlichte, erinnert sich: »Diese Musik war nicht für ein biodeutsches Publikum gedacht. Beziehungsweise bestand in diesen Jahren auch kein großes Interesse an solcher Musik und der Lebenswelt dieser Menschen.«

Diese politischen Konsequenzen sind auch heute noch für migrantische Musiker*innen zu spüren. Wo ist dabei der Anfang der Geschichte, wie sieht die Entwicklung aus und wo stehen wir heute?

Gestern im Gemüseladen …

Die Wurzeln und Geschichte der Gastarbeiter*innenmusik nachzuverfolgen, ist eine knifflige Aufgabe, da die meiste Musik fernab des hiesigen Mainstreams stattfand. Nämlich dort, wo die jeweilige Community einen Zugang hatte. »In den 70er- bis 90er-Jahren wurde die Gastarbeitermusik in Deutschland auf Labels wie Minareci, Türküola und Uzelli veröffentlicht. Die Tonträger wurden meist auf Kassette oder Seven-Inch-Vinyl in Import-Export-Läden oder ganz schlicht in Gemüseläden, die auch eine Medienecke mit VHS-Tapes hatten, verkauft«, so Kullukçu.

Bülent Kullukçu und Imran Ayata, die ihre Compilation »Songs of Gastarbeiter Vol. 1« 2013 bei Trikont veröffentlichten (Foto: Eugen Haller)

Die Musik von Gastarbeiter*innen und deren Kindern lässt sich also als lokales Community-Phänomen betrachten. Das bestätigt auch Ercan Demirel von Ironhand Records: »Damals waren die Bands eher im eigenen Gebiet bekannt.« Vergleichbare österreichische Labels gab es in diesem Zeitraum keine. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kassetten des Münchner Labels Minareci auch ihren Weg nach Österreich fanden. Bülent Kullukçu: »Ab den 80ern gab es auch Bands wie Derdiyoklar.« Eine Band, die mit ihrem Disco-Folk und ihren außergewöhnlichen Liveshows auch über Ländergrenzen hinweg bekannt war. Dabei zeigten Derdiyoklar den besonderen Wert von Hochzeiten als Ort der musikalischen Bühne auf, auch weil etablierte Konzertbühnen autochthonen Bands vor­be­halten blieben.

Anschluss an die Öffentlichkeit fand etwa die Band Grup Doğuş aus München auch erst dank der Neuauflage ihrer Musik durch Demirels Label Ironhand Records. Grup Doğuş war die erste Gastarbeiterband, die den Anatolien-Pop in den 70er-Jahren nach Deutschland und Österreich brachte: psychedelisch, progressiv und groovig. Solche Talente wären ohne den gekonnten Blick Demirels wohl bis heute vom Mainstream unentdeckt geblieben. Aktuelle Bands, die alte Klassiker des Anatolien-Pop und -Rock neu interpretieren, sind deutlich inspiriert von diesen Re-Releases. »Die Musik gefiel der Jugend, daraus entstanden Bands wie Altin Gün und Grup Şimşek«, so Kullukçu. Die beiden genannten Acts covern unter anderem Bands wie Barış Manço, Gülden Karaböcek oder Özdemir Erdoğan, die in ihren Liedern das Gefühl der Fremde und des Heimwehs (im Türkischen: gurbet) besingen.

Auch Frauen wurden als Gastarbeiter*innen angeworben, was häufig vergessen wird. Unter ihnen Yüksel Özkasap, die mit ihren sentimentalen Texten als »Nachtigall von Köln« bekannt wurde. Laut Demirel gab es eine recht geringe Zahl an Musikerinnen unter den Gastarbeiter*innen. Mangels biografischer Dokumentation könne man heute nicht genau sagen, ob sie als Gastarbeiterinnen, Musikerinnen oder – wie im Fall von Bülent Ersoy – als Exilantinnen nach Deutsch­land kamen.

Ercan Demirel von Ironhand Records vor seinen Kassetten (Foto: Olcay Mete-Demirel)

Trotz der reichhaltigen Geschichte konzentriert sich die heutige Wahrnehmung türkischer Musik größtenteils auf Rapper wie Eko Fresh, Haftbefehl, Mero oder Eno. Das liegt vor allem an den technischen Möglichkeiten: »Heutzutage kann jeder mit einem Handy oder einer bestimmten Software auf einen Beat rappen. Viele junge Rapper sind durch Instagram groß geworden«, so Demirel. Die sozio-ökonomischen Gründe dahinter hebt Esra Özmen von Esrap aus Wien hervor: »Im Rap ist nichts privilegiert. Ein Instrument zu spielen hat auch immer was mit Erziehung und Support von daheim zu tun. Wenn du bis du 15 Jahre alt bist kein Instrument gelernt hast, ist es danach halt schwieriger. Aber du kannst dich mit 18 trotzdem hinsetzen und Texte schreiben. Bei Rap kann man von null starten, bei den anderen Genres brauch man Startkapital.«

… heute im Rap-Game …

Startkapital, das bedeutet zum einen Support von zu Hause, aber auch von der Öffentlichkeit. Eine gewisse Verschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft ist heute noch immer zu spüren. »Das, wofür ich zehn Jahre gearbeitet habe, erreichen weiße Menschen in einem Jahr«, sagt Esra Özmen. Dabei spiele das Netzwerk, das einem Zugang zur Öffentlichkeit verschaffen oder diesen erschweren kann, eine große Rolle. »Wir sind Gastarbeiterkinder, wir kannten hier halt nicht so viele Leute. Wir hatten natürlich auch Support: das Kaffeehaus von nebenan oder die Freunde von meiner Mama. Aber der Support ist halt bis zur Moschee gegangen, und das war’s dann auch. Natürlich ist das urschön, aber Auftrittsmöglichkeiten hat uns das keine gebracht.«

Es geht also um Sicht- beziehungsweise Hörbarkeit. Hörgewohnheiten sind erlernt, wobei politische Einstellungen natürlich auch eine Rolle spielen. Musik, die für deutsche und österreichische Ohren erst mal ungewohnt klingt, bedürfe einer gewissen Auseinandersetzung, so Enes Özmen, Esras Bruder, der das Duo Esrap komplettiert.

Unaufgeschlossenheit ist das eine. In den 80er-Jahren wuchs jedoch auch der alltägliche Rassismus gegenüber türkischstämmigen Menschen. Grup Doğuş löste sich aus Angst vor rassistischen Übergriffen auf. Im Song »Liebe Gabi« kommentieren Derdiyoklar mit der Zeile »Helmut Kohl und auch Strauss wollen Ausländer raus« die politische Situation. Dennoch gab es einen interkulturellen Austausch: Cem Karaca, einer der bekanntesten türkischen Musiker, der in den 80er-Jahren als Exilant in Deutschland lebte, brachte ein Album in deutscher Sprache heraus. Und Ozan Ata Canani sang seine Lieder ebenfalls auf Deutsch.

Die heutigen Musiker*innen stehen in einer Tradition, die ihre Wurzeln in einer Generation hat, die als Gastarbeiter*innen in die Fremde zog. Dieses Gefühl des Außenseitertums ist bis heute Quelle der Inspiration vieler türkischstämmiger Musiker*innen. Esrap aus Ottakring sind für ihre Vermischung von traditioneller Arabeske und Rap bekannt. Musik von Gastarbeiter*innen haben die beiden zu Hause selten gehört, dafür die Größen der Arabeske wie Müslüm Gürses, der auch jetzt noch ihre Musik beeinflusst.

Enes Özmen: »Bei Arabeske, da geht es um das alltägliche Leiden. Müslüm Gürses war Alkoholiker, seine Eltern waren tot. Der hat wirklich gelitten und das hat man gespürt. Man muss halt authentisch sein, bei dem, was man macht.« Doch wie äußert sich diese Authentizität? Bei Esrap spürt man, dass sie ihre Musik leben. In »Meine Welt« rappt Esra Özmen: »Mein Schicksal ist es, Rap zu machen.« Damit zeigt sie auf, dass es auch für die Nachkommen der Gastarbeiter*innengeneration oft nur wenige Wege gibt.

Das Rap-Geschwisterpaar Esrap berichtet in seinen Tracks unter anderem vom migrantischen Leben in Ottakring. (Foto: Martina Lajczak)

Auch wenn sich Esrap nicht direkt als Gastarbeiter*innenband bezeichnen würden, beschäftigen sie sich mit diesem thematischen Erbe. Die Enkel und Großenkel der Gastarbeiter*innen sind mittlerweile in Deutschland und Österreich zu Hause. Die Frage nach Zugehörigkeit bleibt aber offen. »Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten, ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören«, singt Ozan Ata Canani in »Deutsche Freunde« – und diese Frage ist nach wie vor höchst aktuell. Musik, in welcher Form auch immer, bleibt ein wichtiger Kanal, um das zum Ausdruck zu bringen. »Arabeske ist für uns einfach auch Therapie. Man fühlt sich mit seinem Leiden nicht allein«, so Enes Özmen.

Auf die Frage, welche Musik Esrap machen würden, wären sie autochthone Österreicher*innen, antwortet Enes Özmen lachend: »Wenn ich Österreicher wäre, würde ich Schlager machen, vielleicht noch irgendwas Cooles rein. Trap mit Schlager oder so.«

… morgen in der Öffentlichkeit

Wünschenswert für die Zukunft wäre für das Duo ein einfacherer Zugang zur lokalen Musiköffentlichkeit, beispielsweise durch Vernetzungsplattformen. Die Labels von damals gibt es heute in dieser Form nicht. Esrap würden solche Outlets begrüßen, denn für sie gestaltet sich die Suche nach musikalischen Kooperationen holprig. »Es war unglaublich schwierig, einen Producer zu finden, der formen kann, womit du dich identifizierst. Wir wollten halt orientalische Beats und da braucht man jemanden mit einem orientalischen Ohr. Wir arbeiten viel mit Balkan-Leuten und aktuell mit Testa von Duzz Down San, da geht es gut, aber wir kämpfen seit Jahren. Unser Label Springstoff ist in Deutschland, das ist cool, aber es wäre natürlich optimal, wenn es hier in Wien mehr Möglichkeiten für Kooperationen geben würde. Da fehlen einfach die Strukturen.«

Nicht nur für die Musiker*innen, sondern auch für die an Musik interessierte Öffentlichkeit wäre das eine Bereicherung. Durch solche Projekte würde die Musiklandschaft des deutschsprachigen Raums vielfältiger und türkische Musik nachträglich in vielen Genres als Teil der kollektiven Geschichte der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. In Zeiten, in denen Einwandernde zum Politikum gemacht werden, ist Musik eine Ermächtigung von Individuen. Wo Worte fehlen, kann Musik einen Beitrag zur Verständigung leisten. Besser spät als nie.

Enes und Esra Özmen aka Esrap stehen am 28. Oktober 2021 beim Loftival im Wiener Lokal The Loft wieder auf der Bühne.

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